Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 21. Mai.

Am gleichen Tag, an dem die gestern hier vermerkte Notiz des «Berliner Tagblatts» erschien, veröffentlicht die Wiener «Arbeiter-Zeitung» die folgende, die als Illustration zu obiger Bundkorrespondenz aus Wien dienen mag.

«Den Tod gesucht, weil der Mann gestorben ist. Die 25jährige Hilfsarbeiterin Aloisia K. hat sich gestern in ihrem Wohnhaus in der Reinprechtsdorferstrasse aus einem Fenster im dritten Stockwerk in den Hof gestürzt und eine Gehirnerschütterung, einen Bruch des Schädelgrunds, einen Bruch des rechten Oberschenkels und Quetschungen der Stirne erlitten. Die Rettungsgesellschaft brachte sie ins Franz Josef-Spital. Frau K. hat die Tat aus Schmerz über den Tod ihres Gatten begangen. Sie ist Mutter dreier Kinder.»

Die «Arbeiter-Zeitung» fügt hinzu: «Woran der Mann gestorben ist, das verschweigt die Polizeikorrespondenz natürlich. Aber darum weiß man es erst recht.» Man darf nämlich milteilen, dass eine Familie über den Schlachtentod eines Angehörigen so erfreut ist, dass sie es ablehnt, für den Getöteten Trauer anzulegen, aber in Wien scheint man es noch immer für unpatriotisch anzusehen, wenn jemand durch solch ein trauriges Ereignis derart vernichtet ist, dass er das eigene Leben fortwirft. Der Eindruck der überfüllten Kaffeehäuser darf nicht verwischt werden. Die Stimmung ist nicht «etwa gedrückt», wie mein gestern zitierter Bund-Korrespondent schreibt. Alles in freudiger Dulliäh-Stimmung, die Selbstmörder aus Verzweiflung über den Tod ihrer gefallenen Lieben stören bloß die freudige Erregung der Kaffeehaus-Vergnügten.

Wer wird übrigens diese indirekten Toten des Kriegs zählen, die auf keiner amtlichen Verlustliste verzeichnet sind, und deren Zusammenhang mit dem Kriegselend in den Polizeiberichten so sorgfältig verwischt wird?

Dr. Friedrich Adler, der im Oktober vorigen Jahres den österreichischen Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh ermordet, ist vorgestern, nach zweitägiger Verhandlung zum Tod durch den Strang verurteilt worden.

Adler ist ein Held. Er hat nicht um sein Leben gekämpft. Er hat von vornherein seine Schuld bekannt und erklärt, dass er die grauenhafte Tat in vollem Bewusstsein der Verwirkung des eigenen Lebens begangen habe. Wenn Adler den Tod durch die Hand des Henkers erleidet, so wird das ein wirklicher Heldentod sein, die Aufopferung aus Überzeugung für das, was er im Interesse des Landes und des Volks gelegen glaubte. Eine Aufopferung, nicht durch äußeren Zwang, sondern aus freiem Willen. Freilich ein Verbrechen, ein Verbrechen, das die Gesellschaft, will sie sich nicht selbst vernichten, nicht ungesühnt lassen kann, wogegen sie sich wehren muss. — Doch nicht jeder, der eine als Verbrechen gekennzeichnete Handlung begeht, ist ein Verbrecher. Dessen sollten wir uns gerade jetzt im Krieg bewusst werden, wo die Menschentötung täglich als verdienstvolles Werk, die Töter als Retter des Vaterlands gepriesen werden. Adler hat sich selbst schuldig bekannt, aber nicht mehr als ein Offizier, fügte er hinzu, der tötet oder Befehl zum Töten gibt. Dr. Adler hat nichts anderes getan als die Moral des Kriegs auf das innerpolitische Leben übertragen. Damit hat er den Widersinn des Kriegs verständlich gemacht, indem er ihn der entsetzten Menschheit als losgelösten Einzelfall unter verändertem Milieu vor Augen führte. Verbrechen? Gut, sagte er sich, Aber dann ist das, was wir seit drei Jahren erleben, ein millionenfach derartig potenziertes Verbrechen, das die Bezeichnung das Wesen der blutstinkenden Erscheinung nicht mehr wiedergibt.

Es ist einfach nicht möglich, dass man diesen Mann nach dem Buchstaben des Gesetzes hinrichtet. Er hat einen Milderungsumstand für sich, wie er von so einschneidender Bedeutung selten die Wege der Justiz schneidet: den Krieg. Ich kenne die Rede des Verteidigers noch nicht, aber ich kann nicht annehmen, dass er es unterlassen haben sollte, darauf hinzuweisen, dass in einer Zeit des Massenmordens von Millionen Unschuldiger, in einer Zeit, wo auch im innerstaatlichen Leben die Rechtsbegriffe und Rechtsgarantien fast zur Farce erniedrigt sind, die Handlung eines einzelnen, die so sehr der Handlung der Gesamtheit gleicht, dass deren Vaterschaft gar nicht bestritten werden kann, nicht so gesühnt werden darf, wie in Zeiten, wo wir uns einbilden dürfen, in heilig geordneten Verhältnissen zu leben.

Erfreulich war es, dass Adler im Gerichtssaal volle Freiheit gegeben wurde, seine Motive zur Tat klar zu legen, dass nicht der Trommelwirbel einer schneidigen Saalpolizei seine Reden erstickte. Es wirkt versöhnend, dass der österreichische Gerichtshof, der selbst nicht der durch Gesetz dem Angeklagten gebührende Gerichtshof war, demjenigen, der sein Leben hingab für seine Tat, die Gelegenheit bot, offen die Beweggründe dazu und die Lieberzeugungen, die ihn leiteten, klar zu legen. Die Öffentlichkeit sollte diesen Richtern Dank wissen, die es verschmähten, das Volksempfinden zu verletzen und dem Unterschied Rechnung trugen, der zwischen den Sympathien für den Mörder und seinem Opfer liegt.