Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. November.

Österreichische oder deutsche Unterseeboote haben den auf der Ausreise nach Amerika befindlichen italienischen Dampfer «Ancona» torpediert. Gegen 200 Personen sind ertrunken. Wozu, warum? Hier versagen die im «Lusitania»-Fall vorgebrachten Rechtfertigungen vollständig. Der Dampfer fuhr nach Amerika, konnte also keine Kontrebande ins Feindesland führen, er galt nicht als Hilfskreuzer, stand nicht im Verdacht, Munition an Bord zu haben, seine Passagiere waren nicht vorher gewarnt worden. Wenn sich auch keine amerikanischen Milliardäre an Bord befanden, ist die Versenkung dieses Schiffes doch himmelschreiend. Welch trauriges Werk, welch trauriger Zustand dieser Welt!

Die Reden im englischen Oberhaus — nicht nur die des Lord Courtney, auch die des Lord Loreburne — erregen einiges Aufsehen. Auch deutsche Zeitungen bringen sympathische Leitartikel. Es war die Stimme der Vernunft, die hier ertönte. Sie bestätigte, was ich hier so oft niedergelegt habe: Wenn dieser Krieg ausgekämpft werden soll, gibt es kein Europa mehr. Der Preis des Siegs wird die völlig vernichtete europäische Kultur sein. Europa hat dann das Ende seiner Geschichte erreicht. Männer, die solche Warnung angesichts des überall bereiten Gesinnungspöbels zu sagen wagen, sollte man Dank wissen. Graf Reventlow, dieser geniale Hetzer, wagt es in der «Deutschen Tageszeitung» (10. oder 11. November), solche nur zu ernsten Mahnungen und die Mahner zu verhöhnen.

«Das verschwiegene Leitmotiv ihrer Ausführungen», so sagt der deutsche Chauvinist, «ist: Der Krieg ist ein schlechtes Geschäft für England geworden. Auch für die Zukunft erblicken wir kein Geschäft in ihm, also ist selbstverständlich die Zivilisation in schwerster Gefahr, also wäre vielleicht zu bedenken, ob man nicht Frieden schliessen sollte, natürlich auf Deutschlands Kosten».

Gut gesagt! Wenn einer eine Hetzrede hält, dann ist er ein Feind Deutschlands, über den man leicht zur Tagesordnung übergehen kann. Kommt aber einer und spricht achtungsvoll von Deutschland, redet er gar von Frieden und Verständigung, dann ist er ein gefährlicher Kerl, der den Kriegs-Nutzniessern das Konzept verdirbt. Schnell ihn mit Geifer bespritzen, ihm unlautere Motive unterlegen, ihn der Verachtung preisgeben. Das ist «ehrenvoll und bringt Gewinn».

Nun, Lord Courteney von Penwith ist eine der ehrenwertesten Persönlichkeiten Englands. Ein liberaler Politiker durch und durch und ein Kriegsfeind seit jeher. Er war der Hauptgegner des Burenkriegs, den er mit aller Energie bekämpfte. Also nicht erst durch eine «Geschäftskonjunktur» ist er ein Freund des Friedens geworden. Auch in der anglo-deutschen Verständigungs-Bewegung war er eine der führenden Persönlichkeiten. Damals lernte ich ihn kennen; 1906 als er die deutschen Journalisten in Whitehall begrüsste, und später 1908 sah ich ihn, als er dem XVI. Weltfriedenskongress in London präsidierte. Übrigens zählt er 83 Jahre und ist schon dadurch über jede «Geschäftspolik» erhaben. Er und seine Frau gehörten auch zu den führenden Persönlichkeiten des gleich nach Kriegsbeginn in London begründeten «Hilfskomitee für in Not geratene Deutsche und Österreicher-Ungarn». — Aber das tut alles nichts; er ist Engländer, und ein ehrenhafter Engländer verdirbt einem Marinejournalisten das Geschäft.