Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 16. Juli.

Nun ist die Demission Bethmann-Hollwegs durch den Reichsanzeiger verkündet worden.

Nach Tiszas Rücktritt wies ich hier am 24. Mai auf die Tatsache hin, dass Bethmann-Hollweg nun noch als der Letzte aus den historischen zwölf Tagen von 1914 einsam dastehe. «Wie lange noch?» schrieb ich von geheimem Hoffen getrieben. Und nun, nach noch nicht zwei Monaten, gehört der fünfte Kanzler der Geschichte an.

Sein Abgang ist doch das Bedeutendste in seinem achtjährigen Wirken. Sicherlich war Bethmann die sympathischste Persönlichkeit, die jemals jene Stelle bekleidete, sicherlich war er wohl am meisten von seinen Vorgängern von modernen Ideen erfasst, war er tiefer als jene in das Sein der Dinge eingedrungen, und so wäre er wohl in normalen Zeiten ein guter und in fortschrittlichem Sinn erfreulicher Lenker der Politik gewesen. Aber das Unglück wollte es, dass er in der anormalsten Zeit der europäischen Geschichte, in der kritischsten Zeitenwende, die jemals die Menschheit durchgemacht hat, zum Handeln berufen wurde. Dazu war er nicht stark genug, besaß er nicht die Kraft des Entschlusses, wohl auch nicht das tiefgehende Verständnis für die Wehen der Zeit. Er hat sich spät im Laufe des Kriegs pazifistischen Ideen zugewandt. Nicht aus Überzeugung, eher aus taktischen Rücksichten. Er hätte aber schon Pazifist sein müssen, als er ins Amt trat. Dann hätte er dem deutschen Volk und der ganzen Menschheit den schrecklichen Schlag dieses Kriegs erspart und wäre so zum größten Wohltäter aller Zeiten geworden. Aber er vermochte nicht die Mittel zu erkennen, die notwendig waren, um dem drohenden Unheil vorzubeugen. Er blieb im Schlepptau der militaristisch-machtpolitischen Bewegung, die auf den Krieg zusteuerte und suchte lediglich das in der Welt auftauchende Streben nach Ausgleich und Verständigung rein äußerlich mitzumachen und für die Zwecke der Machtpolitik nutzbringend zu verwerten. So vermochte er in den Jahren 1909—1914 die gasgeschwängerte Atmosphäre der europäischen Politik nicht zu entgiften. Und als dann die Stunde des Unheils kam, war er nicht Führer, sondern Geführter. Vielleicht auch Genasführter. Denn erst spätere Eröffnungen werden erkennen lassen, wie weit der verantwortliche Mann selbst von den Unverantwortlichen dupiert wurde. Er hat die Schicksalslunde nicht verhindern können und war, als sie eintrat, nicht stark genug, die Hand an das Ventil zu legen, um die Explosion zu vereiteln. Ein Mann in seiner Stellung hätte allein in Europa die Macht dazu gehabt. Aber er war lange nicht mehr Herr seiner selbst.

Dass ihm das Traurige seiner Lage nicht bewusst wurde, geht daraus hervor, dass er blieb. Damit hat er die Verantwortung für den Krieg übernommen. Dann ging es fort, von Stufe zu Stufe.

Von Bethmanns politischen Taten zeugen die Zulassung des Einfalls in Belgien, das Wort vom «Fetzen Papier», der «Fehler» der «Lusitania», die Beglückwünschung der Alldeutschen zu ihrem Kampf gegen die «Verbrüderungsideologie», das in der Siegerpose abgegebene Friedensangebot, die Zimmermann-Umtriebe mit Carranza und Japan, der verschärfte Unterseebootkrieg, die norwegische Bombenaffäre. Sein Ungeschick hat nicht nur den Krieg nicht verhindert, er hat seine Entfesselung zugelassen , ohne die geringsten Sicherheitsmaßregeln getroffen zu haben, so dass sich die Koalition ungestört entwickeln konnte. Er hat es, als der Krieg nun einmal da war, nicht vermocht, England, Italien, Rumänien und schließlich Amerika abzuhalten, sich gegen Deutschland zu beieiligen. Freilich dürfte es, als der Stein einmal im Rollen war, nicht mehr möglich gewesen sein, dieses Kunststück zu vollbringen, aber es wäre Pflicht gewesen, die Koalition vorauszusehen, und da hätte ein kraftvoller Politiker schon beim österreichischen Ultimatum in Serbien oder spätestens doch beim Zarenhinweis auf das Haager Schiedsgericht ersetzen können. Es ist nichts darüber zu reden. Bethmann verlässt sein Amt mit 25 gegen Deutschland gerichteten Gegnern, mit einer Weltkoalition gegen das Reich, der ein deutscher Kanzler unter allen Umständen hätte Vorbeugen müssen. Mit dieser schweren Verantwortung belastet, zieht er sich von den Geschäften zurück.