Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 3. August.

Die Jahresbilanz wird in allen Zeitungen aller Länder besprochen. Sie tun alle so, als ob sie zufrieden wären. Am einleuchtendsten und klarsten ist noch die deutsche Bilanz. 180.000 Quadratkilometer feindlichen Gebiets besetzt, während die Gegner nur 11.050 Quadratkilometer besetzt halten. 1.695.400 Kriegsgefangene, 7000 —8000 erbeutete Geschütze, 2000—3000 Maschinengewehre. Das ist bündig sichtbarer Erfolg. Es fehlt nur die Kostenaufstellung. Diese zu geben unterliess man. Auch sei das Bedauern ausgedrückt, dass trotz dieser ungeheuren Errungenschaften die Stunde des Sieges nach einjährigem Kampf noch nicht geschlagen hat. Es ist offenbar die günstigste Lage von allen Kriegführenden; aber nicht der Sieg.

Ebenso triumphierend wie der Beuterapport der Armee klingt der wirtschaftliche Rapport des Staatssekretärs Helfferich. In seiner Äusserung an den Korrespondenten der «Associated Press» wird die Untauglichkeit der englischen Aushungerungsversuche wieder unumwunden dargelegt. Er sagte:

«Die wirtschaftlichen und finanziellen Hauptergebnisse des ersten Kriegsjahres sehe ich in folgenden Punkten: der englische Hungerkrieg gegen Deutschland ist ein für allemal gescheitert. Es ist bewiesen, dass unsere inländische Nahrungsmittelproduktion, verbunden mit der Organisation der Brotkarte und der Höchstpreise, auch dem Ärmsten die notwendige Nahrung sichert, und das zu Preisen, die niedriger sind als in Grossbritannien. Auch an Rohstoffen können wir nicht ausgehungert werden. Die völkerrechtswidrige Erschwerung der Rohstoffeinfuhr ist für uns unbequem, aber nicht tötlich. Die wichtigsten Rohstoffe, Kohle und Eisen, gewinnen wir reichlich im eigenen Land. Von den andern haben wir unverarbeitet und verarbeitet grosse Bestände, die bei der durch unsere Organisation gesicherten sparsamen Bewirtschaftung praktisch unerschöpflich sind. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit ist gebannt. Es gibt mehr Arbeit als Arbeiter. Der Krieg erwies sich als grösserer Arbeitgeber als früher der Export».

Vielleicht ist dies, in der guten Absicht, damit nach aussen zu wirken, zu schönrednerisch gesagt. Wenn der Krieg sich als grösserer Arbeitgeber als der Export erweist, so läge die Versuchung nahe, beim Krieg zu bleiben und den Handel überhaupt aufzugeben. In ruhigeren Zeiten als die gegenwärtigen, haben kluge Nationalökonomen dargelegt, dass der Krieg doch die unrentabelste Industrie sei. Seine Ergebnisse stünden nicht im Verhältnis zum aufgewendeten Kapital. Herr v. Helfferich will diese Erfahrung abtun. Auch das Rätsel, dass es mehr Arbeit gibt als Arbeiter, findet seine klare Lösung darin, dass der Arbeitsmarkt durch die Abwanderung der Kriegstauglichen zur Armee von Händen entblösst wurde. Man soll doch aufhören, aus der Not eine Tugend zu machen, so dass die Leute einfachen Geistes den Krieg als den grossen Wohlstandsförderer ansehen müssen. Was heisst es, wenn der Berliner Oberbürgermeister Wermuth in seinem Bilanzartikel in der «Vossischen Zeitung» ähnliche Feststellungen wie v. Helfferich macht? Danach ist in Berlin die Zahl der Arbeitslosen im Juli 1914 von 15.000 auf nur 3.354 im Juli 1915 gesunken. Die Zahl erscheint mir, im Hinblick auf den Arbeitsüberfluss von dem Helfferich spricht und im Hinblick auf die im Felde befindlichen Millionen Arbeiter, noch hoch genug. Auch dass, nach dem selben Bericht, das Berliner Asyl für Obdachlose seit Monaten nur ein Zehntel der Besucherzahl des Vorjahres aufweist, ist nicht als ein Wunder der Prosperität aufzufassen. Dies wird erst der Fall sein, wenn das Verhältnis nach dem Kriege so bleiben oder sich gegen die Friedenszeit nicht erhöhen wird.

Dieses gewaltsame Hervorsuchen günstiger Zeichen ist im Hinblick auf das, was bewiesen werden soll, für den Freund des Volkes im höchsten Grade unerquicklich. Es sieht so aus, als ob man beweisen wolle, dass es für die Menschheit nichts Günstigeres gäbe, als so einen einjährigen Krieg gegen die ganze Welt. Und diese Beweisführung ist umso unangenehmer, als es in Wirklichkeit noch nie etwas Fürchterlicheres gegeben hat, als das Ereignis dieses einen Jahres! Noch nie! Das kann man ohne Übertreibung sagen. Denn niemals in der Geschichte der Menschheit ist solch höllisches Übermass von Vernichtung in solch üppige Blüte- und Lebensentfaltung hineingefahren. Was wollen diese Rechenkunststücke eigentlich beweisen? Dieses Jahr liegt schwerer auf der Menschheit als der uns stets als der Schrecken grösster dargestellte dreissigjährige Krieg. Wir werden länger daran zu tragen haben, als an jenem, durch Unverstand über die Menschheit gebrachten Unheil. Der europäische Krieg von 1914/15 bedeutet einen schwereren Rückschlag der europäischen Kultur, als jener von 1618—1648. Was will da das Pochen auf die geringe Zahl der Arbeitslosen, auf die wenigen Besucher der Asyle? Leider besteht die Aussicht, dass diese Zahl sich mehren wird, wenn erst der Rückschlag zum normalen Leben kommt.

Kaiser Wilhelm hat zum Jahrestag des Krieges eine Kundgebung an das deutsche Volk erlassen. Darin stehen die wichtigen Worte: «Vor Gott und der Geschichte ist mein Gewissen rein! Ich habe diesen Krieg nicht gewollt!» Der Kaiser soll angesichts eines Leichenhaufens auf einem Schachtfelde den gleichen Ausspruch getan haben. — «Ich habe diesen Krieg nicht gewollt». Man wird diesen Ausspruch, der eine klare Verurteilung ist, allen denen vorhalten, die sich in Lobpreisungen über das Glück und die Grösse dieses Krieges überbieten. Etwas, was man nicht gewollt hat, kann nichts Gutes sein. Und in späteren Friedenstagen wird zu untersuchen sein, wieso ein Krieg zum Ausbruch kommen konnte, den der mächtigste Mann in Europa «nicht gewollt» hat; nachzuforschen, wo der Fehler im System liegt, dass er dennoch möglich wurde. Wird sich da nicht herausstellen, dass es die Rüstungen waren, jenes falsche Sicherungsmittel, das man als die beste Schutzwehr für den Frieden ansah, das hier, allem Willen zum Trotz, den Krieg herbeiführte? «Ich habe diesen Krieg nicht gewollt!» Diese Worte könnten als Schlachtruf für alle jene Bestrebungen dienen, die die Notwendigkeit eines auf Rechtsgrundsätzen errichteten Staatensystems erweisen wollen, das den Frieden unweigerlich sicher zu schützen imstande sein wird, so dass ein solcher Klageruf nie mehr zu ertönen brauchen wird.

Es hiess früher: «Wenn Du den Frieden willst, so rüste den Krieg». Nun hat sich erwiesen, dass dieses Rüsten ein untaugliches Mittel war. Trotz der Rüstungen kam der Krieg, den der deutsche Kaiser «nicht gewollt» hat. Man wird künftig sagen dürfen: «Wenn Du den Krieg nicht willst, so organisiere die Welt». — Das wird der unerschütterliche Friede sein.