Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 15. Juni.

Das gewaltige Werk einer interkontinentalen Eisenbahn über den gesamten amerikanischen Erdteil von der Hudson-Bai bis zur Magelhaes-Straße erfordert in ihren noch zu errichtenden fünftausend Meilen einen Kostenaufwand von 175 Millionen Dollar. Das war eine Summe, die mir vor Jahren riesiggroß erschien, so groß wie das Werk, das durch sie geschaffen werden soll. Gestern meldete der Telegraph trocken, dass das amerikanische Repräsentantenhaus die Kriegskredite von 3280 Millionen Dollar bewilligte. Fast das Zwanzigfache dessen für den Krieg, was für ein so ungeheures Kulturwerk wie die pan-amerikanische Kontinentalbahn erforderlich war. Und dabei ist diese Kriegsausgabe doch nur eine erste Rate, die späteren werden, nach den Kriegsausgaben der europäischen Staaten gemessen, die erste Summe um ein Vielfaches übersteigen.

Und wofür diese Ausgaben? Zur Sicherung Europas vor künftigen Kriegen? Wir haben in Europa bis jetzt 300 Milliarden Schulden für den Krieg gemacht, die Schäden und die künftigen Lasten für diesen Krieg werden mindestens noch einmal diese Summe erforderlich machen. Die gesamten Rüstungskosten Europas betrugen vor dem Krieg zirka zehn Milliarden jährlich. Mit den durch den Krieg bis jetzt verursachten Kosten hätte man also fast siebzig Jahre die schon als Wahnsinn empfundenen Kosten des Wettrüstens bestreiten können. Siebzig Jahre lang. Man hätte dabei die vielen Millionen Menschen gespart und noch immer die Hoffnung hegen können, dass vor Ablauf der siebzig Jahre in irgendeiner Form die Erleuchtung hätte kommen können. Selbst wenn uns dieser Krieg vom Krieg befreit, von seinen Lasten wird er die nächsten Generationen nicht mehr befreien.

Wie die Welt nach dieser Richtung aussehen wird, lässt eine Ankündigung des französischen Finanzministers ahnen, der eine neue Steuerquelle erschließen will, die jährlich 1200 Millionen tragen soll. Darunter eine Steuer auf persönliche Ausgaben, die 5 bis 10 Prozent betragen soll und eine Erbschaftssteuer, die der Erbe während seiner ganzen Lebensdauer jährlich zu bezahlen haben wird. Der Mensch der kommenden Zeit wird wie seinen Schatten den Weltkrieg mit sich schleppen, nur mit dem Unterschied, dass dieser ihn auch verfolgen wird, wenn die Sonne nicht scheint. Er wird den Krieg als Kompagnon für sein ganzes Leben mit sich ziehen, und wird ihn bezahlen müssen, wenn er isst und trinkt, wenn er schläft und wohnt, wenn er reist, wenn er schreibt oder liest, wenn er sich bildet, wenn er arbeitet, wenn er Kinder in die Welt setzt, wenn er stirbt. Er wird diesen Kompagnon wie eine unheilbare Krankheit durchs Leben schleppen müssen, und wie eine solche wird sie ihm das Leben kürzen. Wahrhaftig die Befreiung der Menschheit vom Krieg wird von ihr teuer bezahlt werden müssen.

Der neue deutsche Fliegerraid über London hat 97 Personen (nach spätem Aufstellungen 130), darunter 16 Frauen und 26 Kinder getötet und 439 Personen, darunter auch Frauen und Kinder verletzt. Die Engländer werden sagen: «Wenn unsere Feinde glauben, dass durch diese Untaten unser Mut geschwächt und unsere Kraft gelähmt würde, so werden sie sich täuschen. Im Gegenteil, unsere Kraft wird dadurch gestählt werden und unser Wille zum Durchhalten gekräftigt.» So sprachen nämlich die Karlsruher Pastoren bei der Beerdigung der Opfer des Fliegerbombardements vom 22. Juni v. J. Warum soll man annehmen, dass die britischen Pastoren, die britische Presse, die britische Volksmasse anders sprechen wird? Und da man das nicht annehmen kann, bei gesunder Vernunft nicht annehmen darf, so ist die Frage gerechtfertigt, warum man den Militärs solche Handlungen gestattet, die weiter keinen andern Zweck haben und neben der unerhörten Grausamkeit, die sie darstellen, nichts anderes erreichen, als die Kraft des Gegners zu stählen und den Willen zum Durchhalten zu kräftigen. Ist das nicht Landesverrat?

Der blutige Angriff auf die wehrlose Bevölkerung von London wird Gegenangriffe auslösen. Deutsche Bürger, Frauen, Kinder werden als Gegenwirkung jenes Fliegerraids zerrissen werden. Unschuldige deutsche Menschen, die heute noch im Licht atmen, sind von jenen deutschen Fliegern, die den Bombentod über London brachten, zum Tod verurteilt, der Vernichtung geweiht worden. Ist das nicht Wahnsinn? Und diese, auf die Fläche und Entfernung eines Zentimeters eingestellte Weit und Umsicht der militärischen Mentalität soll ungehindert und ungefesselt weiter rasen dürfen?

Wann wird sie aufflammen, die beleidigte und geschändete Menschheit?