Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 3. November.

180 000 Gefangene und 1300 Kanonen. Das ist das Ergebnis der für die Zentralmächte siegreichen zwölften lsonzoschlacht. Eines der gewaltigsten Ereignisse dieses Weltkriegs. Gewiss. Sicher, wie einer der romantisch gefärbten Berichte hervorhebt, eine der größten Schlachten der Weltgeschichte. Auch, wenn man will, so etwas wie eine Ironie der Weltgeschichte. Die Verräter von den von ihnen Verratenen besiegt. «Ein Gottesurteil!» Heldentat für «ewige Zeiten», «ruhmbedeckt», «Schulter an Schulter», «Untreue schlägt den eigenen Herrn», usw. usw. Im Ernst gesprochen die deutschen Patrioten, die ich in diesen Tagen sah, sind ob dieses herrlichen Sieges zerknirscht. Sie hätten im Interesse ihres Volks, das sie lieben, dem sie Aufstieg wünschen, gern auf diesen Sieg verzichtet, der nur dem Militarismus, dem Machtgötzen, dem Unzeitgemäßen neues Leben bringt und den Aufstieg der Demokratie verzögert. Sie hätten alle diesen Sieg nicht gewünscht, der das Maß des Hasses gegen das deutsche Volk in der Welt vermehren, der den Friedensschluss wieder ins Unbegrenzte hinausschieben muss, und der demnach neben der militärischen Bravourleistung ein politisches Debakel erster Ordnung ist. Wie diese Beurteilung auch in Österreich die Geister beherrschen muss, beweist das eisige Schweigen der «Arbeiterzeitung» zu dem «größten Sieg der Weltgeschichte.» In der Rede Adlers, die ich am 29. hier vermerkte, ist ja die Stellungnahme der Vernünftigen schon im voraus deutlich ausgedrückt. «Alle diese Offensiven bringen uns dem Frieden nicht näher.» Wie recht hat er! Und er kann hinzufügen Sie machen uns die Gegenwart immer unerträglicher. Unerträglich der Gedanke an diese Opfer, die da gebracht wurden, und von denen keiner der mit rhetorischen Bildern überladenen Berichte ein Wort erwähnt, als wäre es überhaupt nicht der Rede wert. Was kosten die 180 000 italienischen Gefangenen und die 1300 Kanonen, die als «moderne» bezeichnet werden, an unserem Blut? Wir wollen klare Rechnung haben. Wir wollen wissen, was die Befreiung des Karsts an teuren Menschenleben kostet. Wir sind der Ansicht, dass die Befreiung dieser paar Quadratkilometer Karstland und der zerschossenen Stadt Görz durch den allgemeinen Friedensvertrag bewirkt worden wären und des ungeheuren militärischen Aufwands nicht bedurft hätten. Wir hätten der Zukunft durch die Rettung von Tausenden von Menschenleben und durch Vermeidung der Erschließung einer die Jahrzehnte befruchtenden Habquelle besser gedient, wenn wir die Italiener an der Pforte, die sie in zweieinhalb Jahren nicht erschließen konnten, hätten weiter kleben lassen. Man sollte auch für die militärische Glorie Höchstpreise festsetzen. Gegenwärtig kommt uns diese Mystik zu teuer. Wohin uns diese fortwährenden militärischen Siege führen müssen, drückt der Allerseelenartikel der Wiener «Arbeiterzeitung» (1. XI.) so deutlich aus.

«Mit jedem neuen Tag wächst die Gefahr, dass der Krieg, den der gute Wille nicht beendet, durch die Waffen entschieden werden könnte. Nach welcher Richtung immer die Würfel fielen, für das Ganze Europas und der Welt wäre das Unglück gleich groß, denn der Sieger würde seinesgleichen auf Erden nicht mehr anerkennen und was zurückbliebe, wäre eine Herrenrasse neben dienenden Völkern, das ist das Kapitalverhältnis im größten erdenklichen Maßstab, aufgerichtet nicht über Individuen, sondern über Nationen. Die Freiheit der Völker wäre dahin und ihre Gleichheit bestünde bloß in gleicher Unterwerfung aller. Ein solcher Stand der Menschheit aber trüge immer erneute Kriege im Schob und brächte durch Menschenalter Versklavung und Verarmung, Hab und Verzweiflung. Die instinktive Furcht vor einer solchen Entwicklung erstickt allgemach jeden Siegesjubel, diese Furcht ist es zugleich, die selbst die so gedankenlose bürgerliche Welt denken lehren muss.»

Die Gefahr des Sieges ist es, die der Menschheit droht. Und damit eng verbunden die Gefahr der Auflehnung gegen einen Sieg, der notgedrungen alles zum Trümmerhaufen machen muss, das uns das Leben lebenswert erscheinen lässt.

In Berlin ist die Reichskanzlerkrisis beendigt. Der bayrische Ministerpräsident von Hertling ist zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Ich betrachte dieses Ereignis als ein tröstliches inmitten dieser Nacht des Elends. Hertling ist sicher nicht der Mann der konsequenten Demokratie, der Mann der groben Entschlüsse, aber er ist ein Gegner der deutschen Pest, des Alldeutschtums, ein Mann, der pazifistischen Ideen nicht fern steht und der, als führender Katholik, vor allem die Ideen der Papstnote vertreten wird.

Vor dem Kriege war er der erste deutsche Staatsmann, der sich entschieden gegen die Rüstungen aussprach. In der Sitzung der bayrischen Kammer vom 29. November 1913 sagte er bezüglich der Haltung Bayerns zur großen Wehrvorlage, dass sich Bayern einer Notwendigkeit gegenüber gesehen habe, von einem besonders eifrigen Willen nicht die Rede sein konnte. Damals sprach er die Worte, die so viel Hoffnungen erweckten:

«In diesem Rüstungen muss Ruhe eintreten auf Jahre hinaus, denn das deutsche Volk ist nicht imstande weiter solche Lasten auf sich zu nehmen.

Im Januar 1914, sagte er zu dem Chefredakteur des «Daily Chronicle», Mr. Robert Donald, der ihn ausfragte, dass er diese Äußerung nicht bedaure. Dann bemerkte er weiter:

«Es ist aber nötig, die richtige Atmosphäre zu schaffen, damit eine Diskussion möglich wird. Es wäre natürlich Tollheit, wollte eine Nation ihre Rüstungen herabsetzen, ohne dass die anderen es gleichzeitig tun. Aber jeder wirkliche Staatsmann muss anerkennen, dass die sich steigernden Rüstungen der europäischen Nationen den Völkern solche Lasten auferlegen, dass in naher Zukunft eine finanzielle Krise droht.»

Ein Staatsmann, der vor dem Krieg so klar gesehen, wird seinen Blick durch die Ereignisse der letzten drei Jahre nur geschärft haben.