Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 16. Mai.

Es scheint sich zu erfüllen, was ein gewisser Rudolf Theuden in seiner bereits 1914 erschienenen Schrift «Was muss uns der Krieg bringen» (zitiert in Grumbach, «Das annexionistische Deutschland», mit naiver Offenheit angekündigt hat. Da heißt es: «. . . unseren deutschen Brüdern in Österreich, deren Augen schon so lange auf uns gerichtet sind, die so heiß ersehnte Erlösung zu bringen, das ist ein Ziel, das wir unter allen Umständen erreichen müssen, ein Ziel, das wir selbst im Falle eines vollständig verlornen Kriegs erreichen können». Also danach war die Eroberung Österreichs für jene Kreise, die heute das tieft in Deutschland in Händen haben, eine ausgemachte Sache, das Hauptziel, in jedem Fall das sicherste Ziel, das sie auch zu erreichen sicher waren, wenn der Krieg mit einer Niederlage enden sollte.

Sieht man das in den maßgebenden Kreisen Österreichs nicht ein, oder will man es nicht einsehen? Will man es nicht sehen, weil man die einzige Lösung, die es für die Schwierigkeiten der Donaumonarchie gäbe, die Demokratisierung des Staates, nicht will und vorzieht, ehe man sich der Demokratie verschreibt, sich mit Haut und Haaren dem preußischen Militarismus auszuliefern? Wohin kann das führen? Doch nur zu einem latenten Revolutionszustand der nichtdeutschen wie der deutschen, aber nicht alldeutschen, Elemente im Reich. Zu dessen Niederdrückung die preußische Hand gerufen werden wird, wodurch sich ihre Herrschaft erst recht festsetzen muss. Alles Gerede von der Wahrung der staatlichen Individualität durch den zu erwartenden Vertrag ist Phrase.

Österreich-Ungarn, das innerlich und äußerlich ärmere und schwächere Land wird, ist die Militärkonvention einmal abgeschlossen, vergebliche Versuche machen, sein Gesicht zu wahren. Der einmal mit Preußen-Deutschland verbündete Doppel-Aar wird zu jenem Vogel werden, dem die Alternative gestellt ist: friss oder stirb. Schon der Dreibund mit seiner losen Bindung hat die Monarchie um die Freiheit ihres Handelns gebracht. Es ist nicht wahr, wenn Prinz Lichnowsky den Dreibund als eine Gefahr für Deutschland hinstellt, die das Reich zwang, österreichische Politik zu machen, sich in österreichische Händel verstricken lassen. Die leitende Macht war immer Deutschland. Es lies sich durch Österreich nicht ins Schlepptau nehmen, sondern dirigierte die Österreichische Politik immer dorthin, wo es sie haben wollte, aber es hielt den Schein der eigenen Initiative gern verborgen. Schon der Dreibund war eine societas leonina. Das Kriegsrisiko lag in Deutschland, in dem durch seine Politik am meisten angefeindeten Land. Mit ihm verbündet sein hieß dieses hohe Risiko mit übernehmen. In dem neuen Bund werden sich alle diese Gefahren, alle diese Beeinträchtigungen verstärkt ergeben. Die Bindung wird fester und drückender werden. Es wird für die Entwicklung dieser kulturell so hochstehenden Völkergruppen an der Donau keine freie Bahn mehr geben. Und das wäre schade, denn Österreich-Ungarn mit seinen begabten Völkern harrt ein hoher Beruf. In ihm liegt der Keim für ein neues, für ein freies Europa, ein Keim, der zugrunde gehen muss, wenn dem Staat die Fähigkeit zur eigenen Entwicklung genommen werden wird. In Österreich-Ungarn, das seine Völker demokratisch organisiert, wäre es möglich, Patriot und Europäer zu sein, in einem Österreich, das sich dem preußischen Militarismus ausliefert, zerbricht diese Möglichkeit.

Es ist noch nicht aller Tage Abend. Der Vertrag ist noch nicht geschlossen. Es ist noch immer möglich, dass die Vernunft siegt über die Machenschaften interessierter Kreise und Parteien.

Kaiser Wilhelm hat in Aachen eine Rede gehalten. Er empfahl den Kleinmütigen, einige Tage an die Front zu gehen und sich die Verwüstungen dort anzusehen, «dann wird er nicht mehr klagen und mit seinem Los zufrieden sein». Gibt es also «Kleinmütige» in Deutschland? Es sind dies vielleicht jene, die in der Zerstörung Frankreichs, in den HaB, den diese Zerstörung erzeugt, in der Verewigung des Krieszustandes, der sich daraus ergeben muss die Grundlage für eine Zufriedenheit nicht finden können, die sie eher zu suchen hofften in einem nicht durch Krieg und Vernichtung zerwühlten Europa. Es sind vielleicht jene, die nicht ihre Zustimmung geben können, zu dem anderen Satz des Kaisers, der da lautet «Wenn sich die Herren hier in sicherer Friedensarbeit zusammenfinden können, verdanken sie das unserem unvergleichlichen Heer»; jene, die vielleicht den ketzerischen Gedanken hegen, dass es just das Vorhandensein eines «unvergleichlichen» Heeres war, das die Unterbrechung der Friedensarbeit bewirkt hat.

Der Kaiser berichtet ferner, dass die Offensive gut vorwärts gehe; «die Sache im Westen wird gemacht, aber wir müssen Geduld üben». Gibt es in Deutschland Leute, die die Geduld verlieren? Werden sie sie finden, wenn sie bedenken, dass das «Machen» der «Sache» gleichbedeutend ist mit noch einer halben Million Leichen und mit vier Milliarden Kosten für jeden in Geduld verharrten Monat? Der Kaiser berichtet ferner über die kriegerischen Erfolge im befriedeten Osten, über die Lebensmittelzüge, die aus der Ukraine in Berlin eintreffen, über die «reichbeladene Handelsflotte», die im Hafen von Sebastopol «erbeutet» wurde, von dem Vormarsch in der Krim, mit der wir ja bekanntlich seit dem Brester Vertrag «in Frieden und Freundschaft» leben. «Also es steht gut» meinte der Kaiser.