Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

31. Januar (Bern) 1915.

Die geringste Berechnung der bis jetzt im Krieg erlittenen Verluste an Toten (ohne Krüppel) ergibt die Zahl von 250,000. Also im ersten Halbjahr des Kriegs die mehr als sechsfache Zahl der im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 auf deutscher Seite Gefallenen (42,000). Dabei ist jene Berechnung von einer Viertelmillion noch sehr gering veranschlagt. Die Wahrscheinlichkeit spricht für eine bedeutend höhere Zahl, namentlich wenn man die infolge Krankheiten Verstorbenen und die mittelbar oder unmittelbar durch den Krieg verursachten Todesfälle der Zivilbevölkerung hinzurechnet.

Aber bleiben wir bei der Viertelmillion!

Diese Zahl ist grässlich genug. Menschenopfer unerhört, die unsrer Zivilisation Hohn sprechen. Ein Vergeuden kostbarster Kraft, eine Tragik, die in ihrem Umfange gar nicht fassbar ist. Eine Vernichtung des heiligsten Gutes, das der Mensch besitzt, des Lebens, des jungen in voller Zeugungskraft und Betätigung stehenden Lebens!

Mit einem Zynismus, der an Besinnungslosigkeit grenzt, beginnt man die Bevölkerung auf die ungeheuren Verluste vorzubereiten, indem man versucht, sich «volkswirtschaftlich» darüber hinwegzusetzen. «Volkswirtschaftlich!» Die Eltern, die ihre Söhne unter Mühen für das Leben erzogen, die Männer, die Weiber und Kinder verwaist in der Welt lassen mussten, sie werden volkswirtschaftlich verrechnet. Alle diese traurigen Einzelschicksale werden als «Masse» — abgewogen.

Das «Berliner Tagblatt» (Abendausgabe vom 28. Januar) bringt einen solchen trostreichen Artikel über «Die Kriegsverluste», der darlegen soll, «dass auch die Wirkung selbst eines verlustreichen und langwierigen Krieges nicht überschätzt werden» darf. «Nicht überschätzt»! So eine Viertelmillion Gefallener, wenn es sein muss auch eine halbe Million, wer wird denn das gar so hoch anschlagen?! Das «Berliner Tagblatt» tröstet uns: «Wenn manchesmal behauptet wird, dass wir durch den Krieg um viele Jahre zurückgeworfen werden könnten, so ist das zum mindesten eine Übertreibung, wie folgende Erwägung zeigt».

Diese «Erwägung» will ich hier im Wortlaut festhalten:

«In Deutschland gab es bei Kriegsausbruch zwischen zehn und elf Millionen Männer, die im

dritten und vierten Lebensjahrzehnt

— also in dem Alter, das einerseits durch den Krieg fast ausschliesslich gefährdet, andrerseits für die wirtschaftliche Volksleistung besonders wichtig ist — standen. Diese Zahl vermehrt sich durch den normalen Zuwachs (über die natürlichen Abgänge hinaus) jährlich um rund 140,000 bis 150,000 Mann.

Jedes Hunderttausend Kriegstoter

bedeutet also einen Verlust des Zuwachses von etwa

acht bis neun Monaten

. Was wir demnach

schlimmstenfalls (!)

einbüssen können, ist der Gewinn weniger Jahre. Unterschätzen darf man freilich auch diesen Entgang nicht, denn seit der Jahrhundertwende ist unsere Geburtenziffer stark gesunken, und in nicht allzu ferner Zeit wird sich das auch in der Zunahmerate der erwachsenen Bevölkerung äussern. Aktive Bevölkerungspolitik wird nach dem Krieg unter allen Umständen nötig sein».

«Schlimmstenfalls!» Dieses Wort genügt. Mögen sich die Mütter, Witwen und Waisen damit trösten. In wenigen Jahren ist der Verlust wieder eingeholt. Die zerbrochenen Schicksale kommen dabei gar nicht in Betracht. Dieselbe Weisheit, die einst der Prinz Condé nach einer opferreichen Schlacht ausgesprochen hat. «Ah bah! Eine Pariser Frühlingsnacht bringt das alles wieder herein!» Wir brauchen uns vor den fürchterlichsten Hekatomben nicht zu scheuen; denn unsere Weiber werden weiter gebären. In wenigen Jahren ist das alles wieder ersetzt. Das ist der Weisheit höchster Schluss, einer Weisheit, die von den Lehren der modernen Menschenökonomie so garnicht angekränkelt ist. Der Mensch hat für jene Rechner keinen Wert. Der englische Nationalökonom Hirst berechnet zwar den rein materiellen Wert jedes in diesem Kriege gefallenen Jünglings mit durchschnittlich 10,000 Mark und kommt bei der Annahme von einer Million Toten für alle Armeen zu einem Verlust von bereits 10 Milliarden allein an dem materiellen Abgang an Menschenleben; das ficht aber unsre Kriegsverteidiger nicht an. Sie rechnen mit dem Ersatzbestreben der Natur. Ich glaube, sie werden sich täuschen und sich erst später daran erinnern, dass gerade die Stagnation der französischen Bevölkerung auf den Aderlass der napoleonischen Kriege zurückgeführt wird, der ein Kinderspiel war gegen jenen Aderlass, den Europa heute erleidet.

Es gibt aber Leute, die dieser Gefahr spotten. In der Frankfurter «Umschau» (23.Jan.) spricht ein Dr. Ernst Franck über «Die Weisheit des Krieges», die auch das Problem des Geburtenrückgangs glatt gelöst habe. «Die Mobilmachungswoche mit ihrem heissen Aufflammen ehelichen und unehelichen Liebesverlangens ohne Rücksicht auf die Mittel der Geburtenhinderung lassen bereits für das nächste Jahr, zumal wenn die Säuglingsfürsorge ihre Aufgabe richtig erfasst, ein erhebliches relatives Aufsteigen der Geburtenziffer erwarten, und ein Gleiches darf für das Jahr nach dem Friedensschluss gelten, wenn die Millionen heimkehrender Krieger sich nach monatelanger Enthaltsamkeit wieder in die Arme ihrer Frauen werfen». Das ist schön gesagt. Nur wird von jenen nicht gesprochen, deren Zeugungskraft mit ihrem Leben für ewig erwürgt ist, und nicht von den prozentual vorwiegenden Minderwertigen, die an der zu erwartenden Progenitur beteiligt sein werden. Die biologische Rechnung eines Krieges wird, nach Starr Jordan, später präsentiert. Dieser amerikanische Gelehrte wies auf den Verfall des römischen Reichs hin, der nach dem deutschen Historiker Seek der Entartung durch die fortwährenden Kriege zu verdanken war. Und merkwürdig ist es, dass diese trostreiche Philosophie, die zum Zweck der Erhaltung der Rasse für eine sorgfältige Pflege der noch Ungeborenen eintritt, für die richtige Erfassung der Aufgaben der Säuglingsfürsorge, über die Vergeudung der bereits aufgezogenen Männer kein Wort verliert. Natürlich einer, der für die «Weisheit des Krieges», für die Vernunft der Sprengbomben, Minen, Bajonette, Torpedos etc. eintritt, der kann für die Weisheit der Menschenökonomie keinen klaren Blick besitzen.

* * *

Deutsche Dichter sind aus Anlass des letzten Kaisergeburtstags mit dem roten Adlerorden vierter Klasse ausgezeichnet worden. Unter ihnen Gerhard Hauptmann, Richard Dehmel, Gustav Falke usw. Auch Ernst Lissauer, der Sänger des Hassliedes gegen England, befindet sich unter ihnen. Dass auch der Dichter der «Weber» diese Auszeichnung erhielt, erregt allgemeines Erstaunen. Wer hätte das vor zwei Jahren gedacht, wo sein «Festspiel» als zu wenig patriotisch von dem Programm der Breslauer Jahrhundertfeier verschwinden musste.

Unter den Ausgezeichneten vermisst man manchen braven Kriegssänger. Vor allem aber Sudermann, der an Kriegspreisung in seinen Dichtungen nicht zurückstand. Von ihm rührt ein Gedicht her, zu dem Humperdinck die Musik gemacht hat, das im Berliner Theater des Westens als Einlage zur Operette «Der Feldprediger» von einem hundert Mann starken Chor allabendlich gesungen wird, während das Publikum den Vortrag stehend mitanhört und wohl auch den Kehrreim mitsingt. Dieser Kehrreim lautet:

«Der deutsche Mann,
Der freie Mann,
Er liebt den Kaiser
Wie er kann,
Er hält ihn lieb und wert.
Und haut die Feinde feste man,

(Haubewegung aller Sänger)
Er ist und bleibt der beste Mann,
Denn er schliff unser Schwert».