Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 29. September.

Die englisch-französische Offensive im Westen scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Das Ergebnis, ein stellenweises Vorrücken der Franzosen und Engländer um je vier Kilometer. Die Opfer jedoch dürften unerhört sein. Jeder Teil meldet vom andern die Ungeheuerlichkeit seiner Verluste. Kellermann schreibt im «Berliner Tageblatt»: «Ihre (der Alliierten) Verluste sollen ins Grauenhafte gehen.» Der französische amtliche Bericht spricht davon, dass das Gelände vor den französischen Schützengräben jetzt «von Leichen bedeckt» sei. Man wird wohl die Zahl der Toten dieses Vierkilometer-Erfolgs nie erfahren. Sie muss ganz fürchterlich sein. Es wird ähnlich wie bei Neuve-Chapelle gewesen sein, wo man berechnete, dass von 80 000 auf beiden Seiten Kämpfenden 30 000 tot und verwundet blieben, und die «Errungenschaft» des Angreifers sich auf ein Vorrücken um 1 1/2 englische Meilen beschränkte. Kellermann berichtet von der ungeheuren Quantität giftiger Oase, mit denen die Engländer laborierten. Er spricht von hunderttausenden von Kubikmetern: «Die Gaswellen waren so dicht, dass man auf 10 Schritte Abstand keinen Baum mehr sah». Und «vor diesem Ansturm von Gaswellen mussten wir uns auf unsere zweite Stellung zurückziehen». Ich schrieb hier schon einmal, dass man bei uns so das Ungeziefer vertilgt. Und gerade heute kommt mir Lamszus’ vergessenes «Menschenschlachthaus» zur Hand, das vor einigen Jahren so unglaublich grauenerregend die Zukunftsschlacht schilderte, und das auch die Ungeziefer-Vernichtungsmethode voraussah. «So massenhaft, so kaltblütig, so sachverständig rottet man nur das Ungeziefer aus. ln diesem Kriege sind wir nichts als Ungeziefer.» — Des Dichters Schreckenstraum ist Wahrheit geworden.

Gestern abend einem Vortrag des Pfarrers Correvon aus Frankfurt über die Gefangenenlager in Deutschland beigewohnt. Mit über hundert Lichtbildern und Kinoaufnahmen. Die französische Kirche war gesteckt voll. Das Ganze die übliche Vergoldung des Elends. Wie das Soldatenleben sonst so oft vom Operettenstandpunkt dargestellt wird, so auch hier das Gefangenenleben. «Ha, welche Lust, Kriegsgefangener zu sein!»

Gegen Professor Masaryk ist wegen «unzulässiger Agitation», die er im Ausland betreiben soll, in Österreich eine gerichtliche Strafamtshandlung und eine Disziplinaruntersuchung mit gleichzeitiger Suspension von Amt und Gehalt eingeleitet worden. — Zeichen der nach dem Krieg in Österreich zu erwartenden Reaktion. Namentlich gegen die Tschechen soll ein scharfes Vorgehen geplant sein, wegen der bei den tschechischen Regimentern vorgekommenen Meutereien.