Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 14. Juni.

Die Programmrede, die der österreichische Ministerpräsident Clam-Martinic vorgestern im Abgeordnetenhaus hielt, entwickelt ein zuversichtliches Bild über die Zukunft des Staats und über die zu bewältigenden großen Aufgaben. Aber diese Rede hat einen Hintergrund, der zum ernsten Nachdenken Anlass gibt. So sagte der Minister:

«Unsre alte, heißgeliebte Monarchie steht heute nach 34 Kriegsmonaten fester denn je. Sie hat ein Erwachen gefeiert, ein Erwachen aus Lethargie und innerem Hader, und ihre Erhaltung und dieses Erwachen und Selbsterkennen, das danken wir unsrer ruhmreichen Armee.»

Diese Worte erklären also den Krieg als Glücksfall, als ein Heilmittel, für das wir dankbar sein müssen — dankbar der Armee. Sie machen also den Krieg zur Grundlage unserer Zukunft, die Armee zum wichtigsten Faktor im Staatsleben. Damit entfernt sich aber die Zukunft Österreichs von jener «wahren Demokratie», von der die Thronrede sprach und von jenen Hoffnungen der Menschheit auf eine zwischenstaatliche Ordnung, die den Krieg zwischen Kulturvölkern ausschaltet. Vielleicht sind diese Worte nur eine Konzession an die noch immer von Mars beherrschte Stunde. Aber für den wahren Patrioten, der das Ende des Kriegs erstrebt, für den wahren Menschenfreund, der den Krieg als einen Irrtum, als einen Glückszerstörer und nicht als eine ewige Wahrheit und einen Glückbringer ansieht, sind sie eine Beunruhigung. Wir dürfen nicht die Zukunft der Menschheit wiederum auf der großen Täuschung aufbauen wollen, dass der Krieg für irgendeinen Staat nur den winzigsten Vorteil bringt. Wir dürfen es nicht, wenn wir unserm Vaterland, wenn wir vor allem unserm Volk dienen wollen!

Der Minister verkündet stolz, dass die Leistungsfähigkeit des Staatswesens den ungeheuren finanziellen Anforderungen der Kriegführung restlos gerecht zu werden vermag. Vermag sie das? Dann umso trauriger, dass diese ungeheure, ungeahnte Leistungsfähigkeit erst durch den Krieg erkannt wurde und erst für kriegerische Zwecke ausgenützt wird. Welche Herrlichkeit wäre das Leben der Bürger geworden, wenn nur ein Bruchteil dieser Leistungsfähigkeit der sozialen Wohlfahrt zuteil geworden wäre, wenn wir nur für einige Milliarden Spitäler, Schulen, Kindererziehungsheime, Universitäten, Eisenbahnen, Bibliotheken hätten bauen können?

Nein, die Freude an Ergebnissen, die der Krieg gezeitigt hat, führt auf eine falsche Bahn, sie zeigt keinen Ausblick auf Rettung aus dem Verhängnis. Die Türe zur neuen Welt muss mit einem Fluch gegen den Krieg betreten werden.

Der König von Griechenland ist von der Entente gezwungen worden, für sich und den Thronfolger abzudanken zugunsten seines zweiten Sohnes. Ententetruppen schicken sich an, das Land zu besetzen. Kein Zweifel: das Kapitel Griechenland ist ein trauriger Fleck auf dem Schild der Entente. Die Vergewaltigung dieses neutralen Lands lässt sich zwar mit der Vergewaltigung Belgiens, dessen Neutralität durch Deutschland garantiert war, nicht vergleichen. Aber eine Vergewaltigung ist es doch. Griechenland hat seinen Bündnisvertrag mit Serbien gebrochen. Es hätte den Bundesgenossen frei gestanden, Griechenland den Krieg zu erklären; aber die Gewaltanwendung im Schein des Friedens kann mit völkerrechtlichen Grundsätzen nicht in Einklang gebracht werden.