Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

24. Mai (Lugano) 1915.

Gestern hat Italien an Österreich-Ungarn den Krieg erklärt. Der Kriegszustand beginnt heute. Man soll nicht sagen, dass Italien nicht vertragstreu wäre: — Es hat sich der Triple-Entente verpflichtet, bis zum 24. Mai loszuschlagen. Und heute ist der 24. Mai. —

Die Gesandten reisen heute ab. Ob auch Fürst Bülow abreist, ist noch nicht klar. Jedoch wahrscheinlich. Zweifellos wird heute Deutschland Italien den Krieg erklären. Wir haben nun die 19. Kriegserklärung in diesem Weltringen. Italiens Kriegserklärung an Österreich erfolgte just dem Tage nach, zehn Monate nach Erlass des unseligen Ultimatums an Serbien!

Der dreissigjährige Traum des Dreibunds, den der österreichische Ministerpräsident von Beck einmal als die «vornehmste Stütze» des europäischen Friedens bezeichnete, ist ausgeträumt. Schon damals (November 1906) habe ich auf diesen Irrtum hingewiesen. «Halten denn unsre Staatsmänner die Menschheit des 20. Jahrhunderts mit Blindheit geschlagen», schrieb ich («Friedens-Warte» 1906, S. 202) «wenn sie angesichts der Vorkommnisse zwischen Österreich und Italien noch von einer Friedensbürgschaft des Dreibunds sprechen können?» Und ich führte die feindseligen Handlungen an, die beide Reiche gegeneinander unternahmen, die das «unnatürliche Verhältnis» in das richtige Licht stellten. Auf die sich bildende Föderation der Westmächte wies ich hin. «Die Dreibundstaaten hätten nichts bessres zu tun, als sich diesem werdenden Friedensbund zuzuwenden, der nicht gegen sie gegründet wird, und der sie jederzeit aufzunehmen bereit ist ... Nur dieser Anschluss vermag für uns noch eine Bürgschaft des europäischen Friedens zu sein ...»

Und sechs Jahre später schloss ich meinen Artikel «Der Dreibund und die Friedensfrage» (Schriften der kritischen Tribüne. Erste Reihe. Heft Nr. 2) mit folgendem Absatz: «Unsre moderne Zeit braucht Bündnisse mit praktischen Ergebnissen, mit abgestimmten Rechenexempeln. Die und nur die werden uns den Frieden sichern. Der Bleistift wird sich wirksamer erweisen als die «schimmernde Wehr», die ja nur dem Umstand ihre Existenz verdankt, dass eben die Rechnungen zwischen den Völkern nicht stimmen, ja künstlich in Verwirrung gebracht werden. Der Friede, den wir brauchen, den wir erstreben, ist fern jeder Romantik und Sentimentalität. Er kann nicht in Gedichten gefeiert werden, sondern nur in Zahlen. Wir sind keine Schwärmer und keine Apostel. Wir sind einfache Techniker des Friedens, und deshalb sehen wir den Dreibund so, wie er heute ist, als ein romantisches Bauwerk an, das zufällig auch noch genützt werden kann. Er erfüllt seinen Zweck, wie etwa eine alte Römerwasserleitung ihn oft noch zu erfüllen vermag, oder wie eine alte Römerbrücke noch imstande ist, den Wandrer trocknen Fusses über einen Fluss zu führen. Das enthebt aber nicht der Pflicht, neue Werke zu errichten, die der Praxis des Lebens vollkommener dienen sollen. An Stelle des Dreibundes der Kabinette setzen wir den Zweckverband Europa».

Nun ist das baufällige Gerüst zusammengebrochen. An seinen Konstruktionsfehlern musste es zugrunde gehen. Wann und wie wird das neue erstehen, das Gebäude der europäischen Ordnung, das uns endlich den Frieden bringen wird?