Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 21. Dezember.

Heute ist ein halbes Jahr vergangen seit Bertha von Suttners Tod. —

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Ein erfreuliches Merkmal — erfreulich, weil es Aussicht auf künftig erweiterte Einsicht gewährt — bietet die in Deutschland selbst einsetzende Bewegung gegen das höchst kompromittierende politische Auftreten der deutschen Professoren. Sie haben uns wahrlich genug geschadet, und wenn der künftige Friedensschluss von ihren Taten abhängig wäre, dann könnte sich Deutschland heute bereits als besiegt betrachten.

«Ein lärmsüchtiges Häuflein, dessen Schimpferei und Konjunktur-Schnüffelei unsern Weltverruf ebenso hastig fördert wie, direkt dahinter, das Jammergekrippel der Kriegsliedermacher tut.» So spricht Harden über sie. («Zukunft», 12. Dezember 1914. S. 337).

Die Berliner Akademie der Wissenschaften hat sich gegen den Geheimrat Lasson ausgesprochen, der unglaubliche Briefe in einem holländischen Blatt veröffentlicht hat. Nun erlässt die Leipziger Universität einen Bannfluch gegen Ostwald, weil dieser in Skandinavien mit seinen Zukunftsbildern eines unter Deutschlands Führung geeinigten Europas Ärgernis erregt haben soll. Es dämmert in immer weiteren Kreisen, dass die Wissenschaft die Voraussetzungslosigkeit des Überpatriotismus nicht gut verträgt und unter deren Bann doppelt Schaden anrichtet. Sie nützt nicht dem Vaterlande, aber auch nicht der Wissenschaft.

Es ereignet sich auch Tröstliches. Der aufmerksame Beobachter bemerkt durch die Ritzen, die in der Presse trotz der Wachsamkeit der Zensur doch offen gelassen wurden, dass der Krieg nicht nur die Bestie bei den Massenmenschen auslöst, sondern auch die Opposition wachruft und eine Verstärkung des Friedensgedankens zeitigt, die unserer Bewegung eine grosse Stütze verleihen wird. Es dämmert allerorten und in allen Kreisen. Nur führt dieses Dämmern in den mit dem pazifistischen Gedankengang nicht geschulten Köpfen zu jener dilettantischen Auffassung der pazifistischen Frühperiode. Der Boden muss daher vorbereitet werden. Die pazifistischen Organisationen müssen sich zur Aufnahme des heranbrausenden grossen Stromes bereit halten, um all den mächtig auftauchenden Willen in ihre Kanäle zu leiten und ihm dadurch Richtung und Kraft zu geben.