Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. November.

Die Völker zerfetzen sich in wütenden Kämpfen, zu Millionen liegen die jugendlichen Leiber der Erschlagenen zwischen den Ruinen der Heim- und Arbeitsstätten. Ein glühender Hass von Volk zu Volk wird angefacht, und wer nicht mithasst wird des Vaterlandsverrats geziehen. Die gute Menschheit nimmt dies alles als Schicksalsfügung, der man nicht entrinnen kann, und nimmt es mit den Hassgefühlen furchtbar ernst. Aber diejenigen, die die Kriege inszenieren und leiten, stehen über den Dingen. Für sie haben diese blutigen Ereignisse mehr künstlerisches Interesse. Wenn auch nicht gerade während des Krieges, so zollen sie sich doch nachher gegenseitig Anerkennung über ihre Leistungen, oder sie sind bereit, ihre Völker statt der Rolle des Hasses und der Vernichtung wieder die Rolle der Zuneigung und der gemeinschaftlichen Arbeit spielen zu lassen. Ja, jene stehen hoch über den blutigen Ereignissen. Sie gleichen Schauspielern, die eben auf der Bühne erbitterte Gegner mimten und die nachher gemütlich am Kneiptisch zusammensitzen und sich gegenseitig Komplimente machen: Donnerwetter, hast du aber heute abend gut gespielt! Nur mit dem einen Unterschied, dass bei jenen die Mitspieler die gemimte Gegnerschaft vorher auch nicht als Ernst sondern nur als Darstellung nahmen, während man bei der Ausführung von Krieg und Volksgegnerschaft immer noch glaubt, unumstössliche Verhängnisse sich vollziehen zu sehen.

Mögen einige Dokumente dies erhärten:

Am 18. Oktober 1912 erliess der König von Bulgarien die Kriegserklärung an die Türkei. Darin heisst es u.a.: «Unsere Friedensliebe ist erschöpft. In dem Glauben an den Schutz und den Beistand des Allmächtigen bringe ich es zur Kenntnis der bulgarischen Nation, dass der Türkei zur Verteidigung des menschlichen und Christlichen Rechts der Krieg erklärt worden ist. Ich befehle der tapferen bulgarischen Armee, in das türkische Gebiet zu marschieren. Mit uns kämpfen ... usw. ... Und in diesem Kampfe des Kreuzes gegen den Halbmond, der Freiheit gegen Tyrannei werden wir die Sympathien aller derer haben, welche die Gerechtigkeit und den Fortschritt lieben».

Seitdem sind drei Jahre vergangen. Dazwischen liegt das Blut tausender erschlagener türkischer und bulgarischer Soldaten, verhungerter und ins Elend getriebener Bürger beider Länder, zerstörte Ortschaften, verbrannte Äcker, Seuchen, Greueltaten, die zum Himmel schreien, und aufstinkender Hass auf beiden Seiten. Drei Jahre! Die Zeitung von gestern enthält folgende Depeschen:

«Konstantinopel, 5. November. (Wolff). Der Sultan verlieh dem König von Bulgarien die Militärverdienstmedaille in Gold».

«Sofia, 5. November. SP. (Wolff. Meldung der Agence bulgare). Das Armeeblatt veröffentlicht folgende zwischen dem türkischen Vize-Generalissimus, Enver Pascha, und dem bulgarischen Generalissimus Schekow gewechselte Depeschen:

Enver Pascha telegraphierte: ,Ich bin überaus glücklich, meine aufrichtigsten und herzlichsten Glückwünsche dem heldenmütigen Oberkommandanten der tapferen bulgarischen Armee zu den grossen ununterbrochenen Erfolgen auszusprechen, die Sie von den ersten Tagen an, mit Heldenmut und Geschicklichkeit die schwierigsten Hindernisse auf Ihrem Wege überwindend, errungen haben, und ich wünsche, dass die ununterbrochenen Erfolge ohne Unterlass ihre Fortsetzung finden, um den endlichen Triumph zu erreichen. Gez. Enver.

Schekow erwiderte: ,Mit wahrer Genugtuung las ich das Telegramm Eurer Exzellenz. Die bulgarische Armee wird fortfahren, sich durch Siege auf dem Schlachtfelde den Armeen unserer unbesiegbaren Verbündeten Deutschland, Österreich-Ungarn und der Türkei anzuschliessen, die unzählige Beispiele von Tapferkeit, Selbstverleugnung und militärischer Kunst gegeben haben, um zum Siege über unsere gemeinsamen Feinde beizutragen. Ich wage Eure Exzellenz zu versichern, dass das Bewusstsein des grossen geschichtlichen Augenblicks die Seele aller bulgarischen Bürger erfüllt, die heute die Armee bilden. Dieses Bewusstsein wird uns den vollständigen Sieg bringen und zum Triumphe unserer gemeinsamen Bestrebungen führen.

Gez. Schekow’.»

Und man wird den Gedanken nicht los, dass bei soviel gegenseitiger Verehrung und Achtung damals die Umgehung kriegerischen Zusammenpralls doch möglich gewesen sein müsste. Wird es uns mit den Feinden von heute nicht ebenso gehen? — Werden wir diejenigen, die heute unsere Söhne erschlagen, mit Minen in die Luft sprengen, an Drahtverhauen verrecken lassen, nicht morgen auch von unserer Seite aus als Helden ehren hören, als braves tüchtiges Volk, mit dem es nur angebracht sei, wieder in friedlichen Verkehr zu treten? Nicht, dass ich diesen Wandel bedauern würde, er zeigt das Bessere; nur dass ich es als widersinnig erachte, heute den gegenseitigen Tod über Völker zu verhängen, die man übermorgen wieder kaltlächelnd wird verehren können.

Übermorgen? — Mancher wird den Kopf schütteln und dies, für uns wenigstens, für unmöglich halten. Ich sage euch, nein! Übermorgen ist eine viel zu lange Frist. Man fängt unter offizieller Zustimmung schon heute zu «achten» und sich zu «verbinden» an, heute, wo der Mordapparat noch im besten Gang ist. Ich habe unlängst erst eine Statistik gelesen über die tausende Dörfer, die die Russen in Ostpreussen vernichtet haben, die zehntausende von Wohnungen, die sie zerstörten, die tausende von Frauen, Kindern und Greisen, die sie verstümmelt, geschändet, gemartert und getötet haben. Und da erscheint im Verlage des «Russischen Kurier» in Berlin, einer vom deutschen Handelsamt geförderten Zentralstelle zur Pflege kommerzieller und industrieller Beziehungen mit Russland, eine gleichzeitig in deutscher und russischer Sprache abgefasste Schrift über den «Warenaustausch zwischen Russland und Deutschland, wie er tatsächlich vor dem Krieg war und wie er in Zukunft zu sein verspricht». In dieser Schrift wird dargelegt, wieviel Deutschland und Russland aneinander verdienten, wie die Ausfuhr Deutschlands nach Russland gestiegen ist (von 143 Millionen Rubel im Jahre 1894 auf 643 Millionen im Jahre 1913) und auch umgekehrt die Einfuhr aus Russland. Der österreichische Abgeordnete Zenker, der in der «Wage» (30. Okt.) über dieses seltsame Buch leitartikelt, findet darin «den Nachweis, dass sich die beiden Staaten gegenseitig ergänzen und einander nützlich, ja unentbehrlich seien» und die Warnung, sich «nach Beendigung der militärischen Operationen» nicht etwa in einen unfruchtbaren Zollkrieg zu verrennen. Die erwähnte Schrift kommt zu dem Schluss:

«Wenn man, objektiv denkend (!), die Nützlichkeit, ja Notwendigkeit des Zusammengehens der beiden sich in so hohem Masse ergänzenden Staaten einsieht, und sich von jeglichem Vorurteil befreit, wenn man den seit jeher bestehenden lediglich durch den Krieg unterbrochenen freundschaftlichen Verkehr zwischen den Russen und den Deutschen berücksichtigt, dann müssen auch die so lange sich bewährten engen Handelsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland nicht nur wiederkommen, sondern sich in Zukunft noch enger gestalten.»

Man wird’s machen! Wir, die wir wünschen, dass die Völker Europas die Katastrophe, die über sie verhängt worden ist, so schnell wie möglich überwinden, dass der stupide Hass derjenigen, die sich heute auf Leben und Tod bekämpfen müssen, bald nach dem Krieg verschwinde, vermögen dennoch dieser künftigen Handelsvorbereitung mitten im Krieg nicht zuzustimmen. Wir finden sie geradezu unerhört und erblicken darin eine Auffassung des Kriegs, die an Frivolität keinen Vergleich aufkommen lässt. Das, wofür eine Generation aufgeopfert wird, wobei ganze Familien ausgerottet werden, wird einfach als «eine militärische Operation» dargestellt, die das Geschäft und den «Freundschaftsverkehr» zwischen beiden Völkern bloss «unterbrochen» hat. Die Vernichtung Ostpreussens, die Vernichtung, die der Krieg in Polen hervorgerufen, das fürchterlichste Gemetzel der Weltgeschichte in den Karpathen und in dem auf ein Jahrhundert zerstörten Galizien hat zwischen Völkern stattgefunden, die sich eigentlich «gegenseitig ergänzen», einander «nützlich» ja sogar unentbehrlich seien?! Das erkennt man, erkennt man jetzt schon, und dennoch, dennoch, so rufen wir mit Wahnsinnsschrei in die Welt, hat man es zu solchem Krieg kommen lassen?! Dennoch findet man dieses Blutmeer vernünftig, während man vor der Unvernunft eines Zollkriegs zwischen den beiden Staaten warnt und das «objektive Denken» anruft, um die «Nützlichkeit, ja die Notwendigkeit des Zusammengehens der beiden sich in so hohem Maße ergänzenden (!) Staaten» zu erkennen? Und trotzdem hat man diesen Krieg losgelassen, hat man nicht seit Jahren alles versucht, um Dämme gegen die Möglichkeit eines solchen Verbrechens zu errichten, das durch das gegenseitige Wettrüsten nur gezeitigt statt verhindert wurde? Angesichts der frischen Gräber und noch rauchenden Brandstätten hat man den Mut, die Perspektive des gemütlichen Vergessens wachzurufen, den Ausblick auf die Zeit, wo man sich gegenseitig ob der Tapferkeit beweihräuchern wird, wo die Gegner von heute sich als Helden antelegraphieren und antoasten, die Staatsoberhäupter sich begegnen und küssen, die Minister mit aller Höflichkeit miteinander beraten und die Kaufleute Handel treiben werden, gemütlich, als ob nichts gewesen als das bisschen Krieg mit einigen zerrissenen Leben und zerfetzten Herzen, denen man ehrende Denkmäler setzen wird als Balsam für das unausheilbare Weh. — Schrecklicher konnte der Wahnwitz des Kriegs, seine Überflüssigkeit, die Möglichkeit seiner Vermeidung nicht dargetan werden als durch diese, von einer offiziellen Stelle unterstützte Schrift, die die Notwendigkeit der sofortigen Aufnahme des friedlichen Verkehrs nach der Unterbrechung der «militärischen Operation» so stark und schon jetzt betont.

Der Handel weckt die Toten nicht auf, aber die Lebenden könnte er wach rütteln!

* * *

Dass uns diese Freundschaftsaussicht für die Zukunft im Hinblick auf Russland eröffnet wird, aber nicht England gegenüber, mit dem uns viel stärkere wirtschaftliche Bande verknüpfen, gestattet einen tiefen Einblick in die, in gewissen Kreisen vorherrschende Neigung, Deutschland mit jenem Zarismus auszusöhnen, dessen Bekämpfung vor 15 Monaten dazu herhalten musste, den furor teutonicus zu erwecken.