Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Axenstein, 18. August.

Mich beschäftigt stark das Buch des Fürsten Bülow über «Deutsche Politik». Man hat den Fürsten öfter als den Mann bezeichnet, dem es vielleicht möglich gewesen wäre, diesen Krieg zu vermeiden. Erst jüngst hat Theodor Wolff die Frage aufgeworfen, warum man in den kritischen Tagen des Juli 1914 nicht einen so erfahrenen Staatsmann wie den vierten Reichskanzler zu Rate gezogen habe, dem es vielleicht gelungen wäre, den herabsausenden Karren durch einen kräftigen Ruck zur Seite zum Stehen zu bringen. Möglich. Dass aber Fürst Bülow nicht der Staatsmann war, der jener Zuspitzung der Verhältnisse Vorbeugen konnte, die schliesslich den Konflikt so gefährlich gestaltete und ihn rettungslos zum Krieg anwachsen liess, dass er auch kaum der Staatsmann wäre, der in diesem Augenblick den Krieg beendigen und einen wirklich dauernden Friedenszustand herbeiführen könnte, beweist sein Buch.

Von dem modernen Geist, der die europäische Menschheit retten könnte, von jenen Ideen, die die Geschichte als etwas anderes auffassen als eine Reihe von Reibereien, Bedrohungen, Eifersüchteleien, Misstrauensergüssen und schliesslich blutigen Auseinandersetzungen ist darin keine Spur zu vernehmen. Die Geschichte erscheint ihm als eine Reihe gewaltsamer Katastrophen, gegen die es keine Rettung gibt, und das Leben der Menschheit sieht er, wie die alten Naturforscher die Welt immer nur vom anthropozentrischen Gesichtspunkt ansahen, nur vom rein germanozentrischen Gesichtspunkt an. Für ihn besteht die geschichtliche Entwicklung der Menschheit in einer deutschen Geschichte, die von fremdländischen Lebenserscheinungen in unberechtigter Weise belästigt wird.

Sollte man es für möglich halten, dass derjenige Staatsmann, unter dessen Amtsführung die beiden Haager Konferenzen stattfanden, für diese Ereignisse in seinem Buch nicht ein Wort der Würdigung findet. Die unwichtigsten politischen Vorgänge werden darin gestreift. Das Haager Werk, das unter seiner Leitung zu bestehen anfing, wird man vergebens darin suchen. Das ist kennzeichnend für das Buch und den Politiker, der es geschrieben hat. Man wird sich, hat man diese unglaubliche Tatsache einmal festgestellt, nicht mehr wundern, auch jene andern Ideen und Gedankengänge nicht erwähnt zu finden, aus denen mancher verzweifelte Betrachter der heutigen Ereignisse Hoffnungen für die Zukunft schöpft, nichts von jenen Forderungen, die der deutsche Patriot zu seinem Leidwesen immer nur in den Äusserungen der feindlichen Staatsmänner aufgestellt findet. In dem Rahmen der «Deutschen Politik», wie sie Fürst Bülow uns darstellt, ist von Völkerrecht überhaupt nie die Rede, geschweige von der Notwendigkeit einer Festigung und einem modernen Ausbau dieses Rechtes. Vergeblich sucht man darin nach der Aufstellung von Vernunft- und Rechtskautelen zur künftigen Vermeidung von Kriegen, etwa von einem europäischen Staatensystem, einem Zweckverband Europa, einer Staatenliga zur Vermeidung von Konflikten, wie sie von Amerika vorgeschlagen wird, einer dilatorischen Behandlung zwischenstaatlicher Streitfälle, wie sie in den internationalen Untersuchungskommissionen und den Bryanschen Friedensverträgen angedeutet ist, einer Errichtung eines ständigen Staaten- oder Schiedsgerichtshofs, einer Vermehrung von Schieds- und Friedenssicherungsverträgen, einer erneuten Heiligung des so sehr geschädigten Vertragswesens, einer Demokratisierung und Kontrollierung der Diplomatie, einer vertragsmäßigen Einschränkung der Rüstungslasten oder einer geistigen Abrüstung durch Beschränkung des unheilvollen Einflusses der internationalen Hetzpresse und durch systematischen Abbau des Hasses. Vergeblich sucht man nach jenem Geist, der in den Reden und Schriften der pan-amerikanischen Staatsmänner zum Ausdruck gelangt, die die Vereinigung der 21 selbständigen Staaten der neuen Welt als nichts anderes angesehen wissen wollen, denn als einen Bund zur Sicherung des gegenseitigen Friedens und als eine gut funktionierende Bereitstellung von Mitteln, die, — um mit Elihu Root zu sprechen — wenn zwei Staaten miteinander in Konflikt geraten, es den andern 19 ermöglichen sollen, diesen Konflikt zu schlichten.

Nichts von alledem. Und doch ist sich Fürst Bülow einer «neuen Zeit» bewusst, die neue Mittel erfordert. Die neue Zeit ist ihm die Periode der Beteiligung Deutschlands an der Weltpolitik, und das Mittel dazu ist ihm die Schaffung der deutschen Flotte. Spätere Geschichtsschreiber werden die Rolle genau festzustellen haben, die die deutsche Flotte in der Vorgeschichte dieses Kriegs gespielt hat. Sie werden dabei die Worte Bülows anziehen, der sich äusserte, dass Deutschland jahrelang die Politik im Dienste der Rüstungen zu führen gezwungen war und erst später die Rüstungen in den Dienst der Politik stellen konnte. Durch diesen Ausspruch wird mancher Vorgang der letzten Jahre verständlich. Vielleicht wird dadurch auch verständlich werden, warum es, als die Rüstungen im Dienst der Politik standen, nicht mehr möglich war, den Krieg zu vermeiden. Die Flotte bildet überhaupt den Kern des Bülowschen Buches, sowohl in seinen Betrachtungen über die Aussenpolitik wie in den der Innenpolitik gewidmeten Ausführungen. Es scheint, dass auch dieses Buch im Dienst der Rüstungen geschrieben wurde und zur glänzenden Rechtfertigung des Schreibers, unter dessen Amtsführung die Flotten-Rüstungen und die Weltpolitik ihren Anfang nahmen.

Fürst Bülow beruft sich für die weltpolitischen Wege, die Deutschland unter seiner Amtsführung einschlug, auf seinen grossen Vorgänger Bismarck, der die Vorbedingungen für die deutsche Weltpolitik schuf (S. 13 und 14):

«Wenn jede neue Epoche geschichtlicher Entwicklung durch die vorhergehende bedingt ist, ihre treibenden Kräfte mehr oder minder der Vergangenheit dankt, so kann sie doch nur einen Fortschritt bringen, wenn sie die alten Wege und Ziele hinter sich lässt und zu andern eigenen dringt. Entfernen wir uns auf unseren europäischen Bahnen auch von der rein europäischen Politik des Kanzlers, so bleibt es doch wahr, dass die weltpolitische Aufgabe des 20. Jahrhunderts die rechte Fortführung sind der kontinental-politischen Aufgaben, die es erfüllt hat.»

Gewiss beruht alle Fortentwicklung der Zukunft auf den Voraussetzungen der Vergangenheit. Darf man aber glauben, dass die Methoden, die für die Fortentwicklung einer früheren Periode angebracht waren, dieselben sein müssen und ebenso angebracht erscheinen für eine in ihren Lebensbedingungen und ihrer Struktur völlig veränderten Zeit? Gewiss; die Maschine hat die Welt verkleinert, hat die Völker, die früher niemals in Berührung kamen, zu Nachbarn gemacht, hat den Austausch ihrer Güter und Arbeit ermöglicht und sie so aus dem engen Kreis ihres Wirkens zum Weltwirken geführt. Die Weltpolitik ist ein Erfordernis der neuen Zeit. — Aber ist es vernünftig, zu glauben, dass die Mittel der Weltpolitik die selben sein müssen, die bei der Verfolgung der nationalen Machtpolitik tauglich und nützlich waren? Die Antwort auf diese Frage bildet den Kern der pazifistischen Lehre. Sie verneint sie. Der Schluss ist falsch, den Fürst Bülow aus der veränderten Weltlage zieht, indem er (S. 17) schreibt:

«Eine Kriegsflotte musste der Armee zur Seite treten, damit wir unserer nationalen Arbeit und ihrer Früchte froh werden konnten.»

Sie musste das nicht. Die neuen Notwendigkeiten einer die Interessen der Völker über den ganzen Erdball spannenden Politik benötigte andere Mittel als die reine Gewalt. Sie erforderte die Organisation des unendlich verwickelt gewordenen Betriebs, der bei seiner Erweiterung die Reibungen vervielfachte, aber das Bedürfnis nach Stabilität erhöhte. Nicht Flotte noch machtpolitische Theorien konnten hier das Heil schaffen. Nur der organisatorische Zusammenschluss der Beteiligten zu einer höheren Ordnung hätte uns die Sicherheiten schaffen können, die nötig sind. Die Menschheit litt an der Dissonanz ihrer weit voraus entwickelten Technik und der zurückgebliebenen, in alten Geleisen der Routine verharrenden, politischen Anpassung. Aus dieser Dissonanz, die eine ausgleichende Weltordnung verhinderte, entsprang der Weltkrieg. Die Phasen seiner Entwicklung und der Geist, der ihn herbeiführte, sind in des Fürsten Bülow Buch mit mikroskopischer Genauigkeit zu verfolgen.

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Das Urteil gegen Liebknecht ist gestern vom Oberkriegsgericht auf 4 Jahre Zuchthaus erhöht worden. Wegen «Kriegsverrat». Die Gegnerschaft gegen den Krieg und der Wille, ihn zu Ende zu bringen, sind also zuchthauswürdige Verbrechen. Das Obergericht hat Liebknecht auch die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, die ihm in der ersten Instanz belassen wurden. So hört er auch auf, Reichstagsabgeordneter zu sein. Dieses harte Urteil ist nicht danach angetan, den innern oder den äussern Frieden zu fördern. Es ist ein Omen der Zeit, der wir entgegengehen. War diese Härte nötig? War es nötig, einem, der mutvoll der Macht gegenüber getreten ist, um das, was er für sein Volk als heilsam erkannt hat, zu verkünden, die Ehrenrechte abzürkennen, wo noch dazu die Vorinstanz die ehrenhaften Motive ausdrücklich anerkannt hatte? — Es war nicht notwendig, einen Mann, der für das Vernünftige im Rasen dieser Unvernunft eintrat, deshalb weil es gerade von den Technikern des Kriegs als technisch unbeqüm empfunden wurde, mit Einbrechern, Bankrotteuren, Zuhältern und Urkundenfälschern auf eine Stufe zu stellen. Das Urteil mag von den dazu Berufenen im guten Glauben gefällt worden sein, demjenigen Teil des deutschen Volks, der im Krieg das Unheil, in diesem Krieg die Vernichtung unserer Kultur sieht, brennt es wie eine tätliche Demütigung im Gesicht.