Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 9. Februar.

Ein havarierter Zeppelin wurde in der Nordsee von einem kleinen englischen Fischdampfer aufgefunden. Der Zeppelin war im Sinken. Nur das Vorderteil ragte aus dem Wasser. Der Kommandant des Luftschiffes bat das Segelschiff um Rettung seiner dreissig Mann starken Besetzung. Der Segelschiffkommandant hatte anfangs die Absicht, diesen Wunsch zu erfüllen, die Zahl der zu Rettenden erschien ihm jedoch zu hoch. Er erzählt darüber:

«Sie waren dreissig und wir waren neun, sie waren bewaffnet, und wir hatten kaum eine Pistole an Bord, und ich wollte keine Gefahr laufen. Wenn ein anderes Schiff in der Nahe gewesen wäre, das mir hätte helfen können, so hätte ich es gewagt, aber kein Schiff war in Sicht. Ausserdem erinnerte ich mich daran, was die Hunnen bereits getan hatten und was sie wiederum tun könnten. Ich sah, dass auf dem Zeppelin drei Eiserne Kreuze aufgemalt waren, zwei an der Seite und eines unterhalb der hölzernen Spitze, die emporragte. Ich vermutete, dass diese Kreuze aufgemalt waren, als Belohnung für verwegene Taten, und ich hatte nicht die Absicht, mich selbst und meine Mannschaft zum Gegenstand einer vierten verwegenen Tat zu machen.

Ich dampfte also von dem Zeppelin ungefähr 9 Uhr 10 weg. Der Kapitän des Zeppelins sagte noch, sie seien im sinkenden Zustand. ,Nun schaut her’, — sagte ich als letztes Wort, ,ihr werdet wohl kommen und es mit mir aufnehmen’. Dann fuhren wir fort. Einige Leute der deutschen Mannschaften schrien erst: ,Bitte, bitte, rettet uns!’ Und dann schüttelten sie ihre Fäuste gegen uns, als sie sahen, dass es zwecklos war.»

So sind die dreissig Männer angesichts der Möglichkeit einer Rettung dem Tode verfallen. Das Vorkommnis ist fürchterlich, und es wird nur noch fürchterlicher, wenn man bedenkt, dass es sicher nicht vereinzelt vorkommt in diesem Krieg. Wie oft dürften sogar Gefangene, die sich bereits geborgen gefühlt haben, kaltblütig vom Gegner hingemordet worden sein, wenn die augenblickliche Lage sie als eine Gefährdung für die eigene Mannschaft hat erkennen lassen. Ich erinnere mich, von solchen Fällen gelesen zu haben. Der englische Segelschiffkapitän war sicher kein Philosoph. Einer vielmehr von jenen einfachen Seelen, die in jedem Lande die ersten Opfer der Kriegshetze waren. Sein Raisonnement ist logisch; über Bedenken halfen ihm reine Nützlichkeitserwägungen hinweg. Die drei Eisernen Kreuze, die bekannten Abzeichen aller deutschen Luftfahrzeuge, schreckten ihn vollends ab. Er kalkulierte: dreissig gegen neun und überliess die Schiffbrüchigen dem sichern Tod. Darf man dem Einfaltspinsel einen Vorwurf machen? Ich bin überzeugt, dass er im besten Glauben gehandelt hat. Was ihn zu diesem Glauben bestimmte, das ist der Kern des Verbrechens. Der Krieg, der wahnsinnige Krieg, der gerade das Bestialische als Grosstat erscheinen lässt, ist hier der Mörder.

Gegen alle die Gaukler aber, die (den Krieg halten sie für unüberwindbar) da glauben, dass die einmal erweckte menschliche Bestie und die menschliche Dummheit nach Belieben ausgeschaltet werden können, wenn man es gerade braucht, ist dieser Vorfall ein weiteres Beweisstück ihrer Torheit. Alle Kriegshumanisierung ist Betrug! Der Krieg lässt sich nur humanisieren, indem man ihn beseitigt. Und wer sich künftig wichtig machen sollte mit Arbeiten für die Humanisierung des Kriegs, den werden wir als Betrüger entlarven und als Vorschubleister des grössten Verbrechens.