Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

24. März (Lugano) 1915.

Grosse Dinge haben sich ereignet. Vor allem die unerwartete Übergabe von Przemysl infolge Mangel an Nahrungsmitteln. Das ist für die Zentralmächte ein Schlag. Weniger effektiv als moralisch. Przemysl galt als uneinnehmbares Bollwerk. Nun hat es sich nach 4 1/2 Monaten übergeben. Wieso eine für uneinnehmbar gehaltene Festung, die also mit einer langen Belagerung rechnen musste, nicht für längere Zeit Nahrungsmittel besass, ist unerklärlich. Welche Bedeutung hat die Festung überhaupt gehabt? Sie hat einen russischen Heeresteil einige Monate lang festgehalten, das Gros aber nicht daran gehindert, darüber hinwegzugehen. Es mag richtig sein, wenn das offizielle Communiqué der österreichisch-ungarischen Heeresleitung sagt: die allgemeine Lage wird durch die Übergabe nicht beeinflusst. Es wäre wohl auch so, wenn die Festung gar nicht vorhanden gewesen wäre. Das Kapitel Festungen wird wohl nach diesem Krieg einer Revision unterzogen werden müssen.

Das andre Ereignis ist der Raid zweier Zeppeline nach Paris. Auch das hat die Situation nicht beeinflusst, hat aber einen moralischen Effekt. Nur die offizielle Erklärung gefällt mir nicht. Es sollte eine Gegenmassnahme gegen die durch französische Flieger vorgenommene Beschiessung von Schlettstadt sein, wobei die Insassinnen eines Lehrerinnenseminars teils getötet, teils schwer verwundet wurden. Repressalie! Wie nun, wenn französische Flieger wieder eine Gegenrepressalie versuchen. Das logische Ergebnis einer dieser Repressalien wäre ein Abkommen für die Nichtbenützung von Luftfahrzeugen zu Beschiessungszwecken, und just ein solches haben die Hauptstaaten Europas abgelehnt, als es ihnen im Haag vorgeschlagen wurde. Bertha von Suttners letzte Schrift war ein Warnruf gegen «Die Barbarisierung der Luft». — Wo immer die Vernunft in diesem Krieg angerufen wird, muss man zur Lehre des Pazifismus zurückgreifen.

Memel war zwei Tage von den Russen besetzt. Sie wurden schnell wieder vertrieben.

Still ist es über den österreichisch-italienischen Konflikt geworden. Das ist unheimlich; denn aus der Welt geschafft ist er noch nicht!

Dass die Zeichnung der zweiten deutschen Kriegsanleihe neun Milliarden erreicht hat, ist ein beispielloser Erfolg. Es muss nun klar werden, dass Deutschland nicht besiegt werden kann. Aber ebenso klar ist es, dass auch die andern drei Mächte nicht besiegt werden können. Es muss also notgedrungen zu einem Kompromiss kommen. Warum zögert man dann noch?