Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

30. Oktober (Bern) 1914.

Gestern abend bei G. in französischer Gesellschaft. Ein hiesiger Konsularbeamter und drei Damen. Die eine dieser Damen aus Paris ist hier, um mit ihrem in Westphalen gefangenen Bruder, Regimentsarzt, in Verbindung zu treten. Die Unterhaltung floss in der bekannten französischen Liebenswürdigkeit dahin. Menschen sind es; sogar liebe Menschen. Wir sprachen natürlich über den Krieg. Auch bei ihnen das gleiche Entsetzen über die Verluste, den Jammer, das Elend. Keiner wollte den Krieg, sagen sie. Sie wähnen sich «überfallen». — Als wir fortgingen, hatten wir das bittere Gefühl der Überzeugung, dass alle diese Menschen in Frieden und Freundschaft leben könnten, wenn die internationale Hetzarbeit sie nicht auseinander bringen würde.

Es wird immer ärger.

Wahnsinnig sollen die Verluste in den Kämpfen in Flandern, namentlich am Yser-Kanal sein. Zu Bergen sollen die Leichen liegen. Ich lese einen Bericht aus der «Daily Mail» über den Nachtangriff an der Yser von Sonnabend den 25. zu Sonntag den 26. Oktober. Es scheint, dass bei diesen Kämpfen Bernhard v. Jacobi sein Leben eingebüsst hat.

Jetzt währt der Krieg ein Vierteljahr.

Wo sind wir? Nirgends eine Entscheidung, nirgends ein Ende abzusehen. In Frankreich stehen sich die feindlichen Heere auf mehr als 600 Kilometer gegenüber, in Russland auf 420 Kilometer. Es wird überall gekämpft, aber nicht entscheidend. Es ist wie ein gegenseitiges Aufeinanderdrücken. Ein Ringen. Dabei fallen «Menschenopfer unerhört». Die Toten auf allen Seiten dürften schon die Viertelmillion überschritten haben, die Verwundeten gar die Million. Und was sind diese Verwundungen im modernen Krieg! Das hat ja die Welt noch nie gesehen, diesen maschinenmässigen Mord. Dieses Aufprallen der ausgeklügeltsten Schnell-und Massentötemaschinen auf zuckende, warme Menschenleiber. Bertha v. Suttners Wort, dass ein Bad, das auf 100 Grad erhitzt wird, nicht mehr ein Bad zu nennen ist, geht mir nicht aus dem Sinn. Das ist nicht mehr Krieg, das ist nicht mehr ein Kampf von Volk zu Volk, das ist ein Vertilgungskomplott, ein Ausrotteunternehmen. Was wird da übrig bleiben, wenn der Krieg ein Jahr dauern sollte? Krüppel, Greise, Wahnsinnige! — Jetzt mischt sich Portugal drein, die Türkei greift russische Städte im Schwarzen Meer an. Sollte das den Krieg der Türkei gegen Russland bedeuten, kann auch die Drohung Englands Tatsache werden, dass japanische Truppen gegen die Türkei ins Feld gestellt werden. Weltbrand! Genau so wie unsere Kriegshetzer in ihren Romanen es dargestellt hatten. Und Italien benützt die Gelegenheit, sich in Valona festzusetzen. Vorläufig um dort den Sanitätsdienst (!) zu sichern und dem Waffenschmuggel vorzubeugen. Sanitätsdienst in Valona! Man möchte lachen, wenn man dies nicht schon verlernt hätte. Dieser Schritt Italiens ist nichts weiter als die Ausnützung der Lage Österreich-Ungarns und die beabsichtigte dauernde Festsetzung an jenem Punkte, dessen Unabhängigkeit die Regierung der Doppelmonarchie stets als eine Lebensfrage bezeichnet hat. Es ist das Schlagwort von der «Sperrung der Meerenge von Otranto» das hier lebendig wird. Ist darin nicht der Keim zu einem weiteren Krieg enthalten? — Und Griechenland besetzt den Epirus! In Durazzo herrscht Essad Pascha, der Gegner Österreichs. So geht das künstliche Staatswesen des Grafen Berchtold zum Teufel, und er muss gute Miene zum bösen Spiel machen, der Erklärung zustimmen, dass Italien, als einzige nicht im Kriege befindliche Londoner Vertragsmacht berufen und verpflichtet ist, in Valona Ordnung zu halten. Der Gendarm Europas! Wie oft haben wir uns den ersehnt! Aber so wie er hier in Erscheinung tritt, als Maske für einen Räuber, meinten wir ihn gewiss nicht! —

Dass im Osten die Sache für die Zentralmächte schief steht, wird durch die Mitteilung des deutschen Generalstabes, der offen von einem Rückzug spricht und von einem «nichts neues» besagenden kurzen Communiqué des österreichisch-ungarischen Generalstabs zugegeben. Die russischen Nachrichten sprechen von einem grossen Sieg.

Die Möglichkeit, die Nachrichten von beiden Seiten gleichzeitig zu lesen, ist einer der Vorteile meines Schweizer Aufenthaltes. Aber dieses Lesen der fremden Zeitungen ermöglicht auch den Anblick jenes fürchterlichen Abgrundes, der sich zwischen den Völkern geöffnet hat, der uns dann nach dem Kriege angähnen wird, wie ein Monstrum, das sich über uns lustig macht. Die französischen, englischen und die deutschen Zeitungen sind gleichmässig angefüllt von widerlichsten Verleumdungen und Hassausbrüchen. Es gibt für sie nichts mehr auf der Welt als die Verächtlichmachung der anderen Nationen. Wenn es da nicht eine kraftvolle, gemeinsame Auflehnung der Kulturwelt geben wird, so geht unsere Kultur überhaupt zugrunde. Und wie wird es die geben können, wenn auf beiden Seiten soviel Trauer und Bitterkeit aufgehäuft sein wird. Wahrhaftig es eröffnen sich traurige Perspektiven.

Die Kulturfreunde halten sich in ihrer Zukunftsarbeit und in ihren Zukunftsforderungen noch zurück; aber die Hetzer und Rüstungsapostel zeigen schon wie sie sich die «Zukunft» vorstellen. Da sendet man mir aus Wien einen Aufruf des österr. Flottenvereins, der mit dem Hinweis auf den Krieg bereits die Notwendigkeit einer Stärkung der österreichisch-ungarischen Marine propagiert, der Marine, die so gar keine Rolle in diesem Krieg spielt, durch ihre verschwenderischen Grossbauten direkt ein Fiasko erlebt hat. Aber die Grundabsicht dieses Rundschreibens ist die Mobilisierung der Masse für die Zunkunft. — Und in der «Kasseler Allgemeinen Zeitung» (vom 21. Oktober) wird über eine Mitgliederversammlung der Ortsgruppe Kassel der Deutschen Friedensgesellschaft berichtet, in der Askevold über «Weltbrand und Weltauferstehung» sprach. In der Diskussion sprachen zwei Persönlichkeiten, die sich darzulegen bemühten, dass der Traum des unentwegten Wettrüstens auch für die Zukunft nicht aufgegeben wird. Es heisst in jenem Bericht:

«In der Besprechung wiesen die Herren Rektor Henkel und Dr. Blumenfeld auf die Friedensliebe und Friedensbemühungen unseres Kaisers hin. Deutschland habe eine von allen Seiten angreifbare geographische Lage und könne die Rüstung zu unserer Wehr auch künftig nicht entbehren.»

So stellen sich also jene Leute die «Zukunft» vor. Das alte Lied soll weiter gesungen werden, trotz der himmelschreienden Opfer, trotz des Elends zu dem dieses Rüsten geführt hat? «Auch künftig nicht!» Unmöglich!

Unmöglich? — Vielleicht werden jene doch die Stärkeren sein, wie sie es bisher waren? — Vielleicht? — In jedem Fall, wenn die Waffen zur Ruhe kommen, dann wird erst der fürchterliche Kampf beginnen.