Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 9. Dezember.

Die Druckerei in Berlin telegraphiert mir gestern, dass das Oberkommando nochmalige Prüfung des Manuskriptes zugesagt hat. Ich hoffe, dass es dabei zu einer billigeren Beurteilung gelangen wird.

In dem Ablehnungsschreiben Ostwalds steht der Satz «die Zeit mit ihren ungeheuren Erfahrungen ist nicht dazu angetan, unbedingt an einer bestimmten Anschauung festzuhalten, sondern vielmehr auch die scheinbar festliegendsten Überzeugungen einer neuen Prüfung zu unterwerfen.» Das ist bedenklich, weil es unter der Form einer fortschrittlichen Forderung imstande ist, einen Rückschritt zu decken. Gewiss soll man nicht versteinert festhalten an seinen Anschauungen, aber doch soweit, dass man sich nicht durch gewisse Masseneinflüsse wie sie ein Krieg mit sich bringt, beirren lassen darf. Alle Werturteile, die jetzt unter dem Einfluss der Kriegspsyche gefällt werden, müssten als beeinflusst abgelehnt werden. Es ist schon bedenklich, dass Ostwald von den ungeheuren Erfahrungen der Zeit spricht, die doch für den Pazifismus nur Bestätigungen seiner Vorhersagen bilden; nur die Probe auf das von ihm aufgestellte Exempel sind. Es hat sich bis jetzt nichts ereignet, was von unserem Standpunkt als neu und unvorhergesehen betrachtet werden könnte. Die «Erfahrungen» machten die andern, nicht wir.

Ostwald, der sich in seinen Ansichten sehr gewandelt hat, braucht diese These zu seiner Rechtfertigung.

Eine solche hat er allerdings dringend nötig.

Wenn ein Mann wie Ostwald, der den Krieg als Energievergeuder verworfen hat, den Hauptträger des Krieges, den deutschen Militarismus, heute als «tatsächlich den höchsten Grad der bisher entwickelten Kultur darstellt» (sieh «Monistische Sonntagspredigten» 1. XII. 1914, Nr. 17, S. 266) so steht einem der Verstand still.

Vollends aber, wenn Ostwald den Hass, der die Gegner Deutschlands zu Feinden macht, erklärt mit «dem Gefühl der Unwiderstehlichkeit dieses neuen Kulturmittels (!), das wir Deutschen uns erworben haben, und andrerseits mit dem Gefühl, dass ihnen die Fähigkeit abgeht, Sinn und Charakter dieses neuen Mittels zu begreifen».

Sind denn alle Begriffe verwirrt? Wir waren uns doch immer klar über die Bedeutung des Begriffes «Militarismus», und doch tun heute alle Gelehrten, die das Wort ergreifen, so, als ob unter Militarismus die Organisation und Schlagfähigkeit der Wehrkraft zu verstehen wäre.

Sie denken nicht einen Augenblick daran, dass das Übergreifen des militärischen Geistes auf die Zivilkreise und die Zivilregierung, dass das Junkertum, Reserveoffizierwesen, das Korpswesen auf unseren Universitäten, das Kriegervereinswesen im Volk, die Propaganda des Wehr- und Flottenvereins, die Militarisierung der Jugend, die Ver-Treitschkesierung der Politik, die Nietzschesierung der Philosophie, die Beeinflussung der Dichtkunst im Sinne Wildenbruchs und Lauffs, der bildenden Kunst im Sinne der Berliner Siegesallee, die Allmacht des Junkertums, die Bekämpfung aller liberalen Regungen, die Entrechtung der Sozialdemokratie, die Vorkommnisse à la Zabern und Königsberger Hochverratsprozess, das Wort des Januschauers von den «zehn Mann», die scharfen Gerichtsurteile für militärische Vergehen, das Festhalten der militärischen Gerichtsbarkeit für den ganzen Tag der Kontrollversammlungen, der Widerstand gegen die Verbesserung des preussischen Wahlrechts, die Unterlassung des Ausbaus der Reichstagswahlkreise, die vielfach bewiesene Missachtung des Reichstags und tausend ähnliche Vorkommnisse, Einrichtungen, Äusserungen, das Bild jenes Militarismus bilden, den das fortgeschrittene Bürgertum Deutschlands seit Jahrzehnten auf das heftigste bekämpft, und der in seinen, in der auswärtigen Politik aufgetretenen Formen den Widerspruch und die Furcht des übrigen Europas erweckt hat.

Eine derartige genau zu definierende Erscheinung als den «höchsten Grad der bisher entwickelten Kultur» darzustellen, kann man nur als Verirrung bezeichnen, für die die allgemeine Kriegspsyche wohl eine Erklärung aber keine Entschuldigung abgeben kann.

Wenn nun Ostwald die Behauptung der Gegner, der deutsche Militarismus sei für sie eine Bedrohung des Friedens gewesen, als «schamlose Lüge» bezeichnet (a. a. O. S. 268), weil Deutschland im Laufe eines halben Jahrhunderts die Hand niemals nach fremdem Land und Gut ausgestreckt habe, so steht man ratlos da, nicht wissend, was man zu einer solchen Beweisführung eines Gelehrten sagen soll, der sich als Naturforscher einen Namen gemacht hat.

Erstens ist es nicht richtig, dass Deutschland die Hand nicht nach fremdem Land und Gut ausgestreckt hat. In den Zeitraum dieses halben Jahrhunderts gehört die Annexion Schleswig-Holsteins, Hannovers, Frankfurts und die Elsass-Lothringens. Wenn hier eingewendet werden soll, dass es sich hier nicht um fremdes Land gehandelt habe, so darf man nicht vergessen, dass die vorhergehenden Besitzer dieses Landes, namentlich was Schleswig-Holstein und Elsass-Lothringen anbetrifft, andrer Meinung waren und sind. Diese Meinung kann als unrichtig bezeichnet werden; bei der Verwicklung der historischen Besitzergreifungen und Besitzverluste darf es einen aber nicht Wunder nehmen, wenn diese andern Staaten eine fortwährende Bedrohung ihres Besitzstandes darin erblicken, dass eine Politik alles als nicht «fremd» bezeichnet, was vor Jahrhunderten oder gar vor Jahrtausenden einmal einer deutschen Herrschaft unterworfen war. Das Reich Karls des Grossen mag einmal deutsch gewesen sein; es heute wieder herstellen zu wollen, heisst dennoch seine Hand nach fremdem Land und Gut ausstrecken. Aber besonders müsste der den Beweis der deutschen Friedensliebe führende Gelehrte einsehen, dass namentlich die Annexion Elsass-Lothringens jene Tat war, die die deutsche Politik als eine Bedrohung erscheinen liess. Denn gerade diese Annexion ist es, die den Riss im heutigen Europa gebildet, die Militärlasten bis zur Unerträglichkeit gesteigert und jene Konstellation herbeigeführt hat, die den gegenwärtigen Krieg in erster Linie verursachte. Ohne Elsass-Lothringen wäre Russland nie der Bundesgenosse des Westens und nie eine Gefahr für Deutschland und das übrige Europa geworden.

Ist die Ostwaldsche Behauptung schon im Hinblick auf das tatsächlich angeeignete fremde Land unrichtig, so ist sie es vollends im Hinblick auf den bekundeten Willen zur Aneignung. Dass Deutschland sich in diesem Zeitraum Kolonien geschaffen hat, sei nur nebenbei erwähnt. Dazu hat es ein Recht gehabt. Das Bedauerliche ist nur, dass es infolge der Verspätung in seiner nationalen Entwicklung dabei mit den erworbenen Rechten andrer, früher am Platze gewesener Völker in Konflikt geriet. Aber die «Pacht» von Kiautschau, der in Tanger und Agadir bekundete Wille, werfen den Satz Ostwalds «Niemals ist in dieser Zeit von uns die Hand nach fremdem Land und Gut ausgestreckt worden» vollends um.

Festzustellen ist, dass eine derartige Politik, möge sie vom innern und vom historischen Gesichtspunkt noch so begründet erscheinen, für die Andern doch immer eine Bedrohung ist. Namentlich aber, wenn der Gedanke der Weltherrschaft, wie es von deutscher Seite geschehen ist, immer und immer wieder unumwunden zum Ausdruck gebracht wurde. Wilhelm Ostwald wird es nicht abstreiten können, dass die Ideen der Treitschke und Bernhardi, die Artikel der Harden, Keim, Liebert, Liman und vieler andrer nach aussen den Anschein der von Ostwald behaupteten unbedingten Friedlichkeit Deutschlands nicht zu erwecken vermochten, dass demnach die Furcht vor den Bedrohungen des deutschen Militarismus nicht so unangebracht war, wie er sich zu beweisen abmüht.

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Man spricht heute sehr viel von der Utopie des «ewigen Friedens», trotzdem wir uns so sehr bemühen, darzulegen, wie wenig Gewicht wir auf die «Ewigkeit» jenes Zustandes legen, den wir an die Stelle der heutigen Anarchie setzen wollen. Mit der Unerreichbarkeit des «ewigen Friedens» die Unerfüllbarkeit des pazifistischen Programms darlegen zu wollen, ist gerade so, als wenn man früher den Versuch der Luftbeherrschung mit der Unmöglichkeit, je den Mars auf einem Fahrzeug erreichen zu können, hätte abtun wollen. Zwischen internationaler, den Krieg begründender Anarchie und ewigem Frieden ist ein weiter Zwischenraum, von dem wir nur eine Etappe zu erreichen suchen, wie der Luftschiffer nicht den Weg zwischen Erde und Mars im Auge hatte, sondern nur die Herstellung des Prinzips, das ihm gestattet, sich von der Erde zu erheben.

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Schopenhauer bezeichnet den Eid als die Eselsbrücke der Juristen. Es gibt auch eine Eselsbrücke der Hohen Politik. Das ist die Stigmatisierung durch den Vorwurf der Heuchelei. Der Diplomat braucht sich nicht die Mühe zu geben, eine Behauptung des Gegners zu widerlegen. Er erklärt sie einfach als unwahr. Aber nicht als gewöhnliche Unwahrheit. Sondern als eine Lüge, die für den, der sie anwendet, eine direkte Notwendigkeit ist, da die Wahrheit eine unbedingt schädigende Wirkung für ihn gehabt hätte, kurz: die Lüge als unentbehrliches diplomatisches Mittel. Damit beseitigt er alle ihm unbequemen Argumente der Gegenseite. Mögen sie noch so einleuchtend sein, so wird man bei dieser Praxis nur erkennen, wie meisterhaft das diplomatische Handwerk von der Gegenseite ausgeübt wird. Der Fluch wird ein Kompliment, und der geduldige Bürger ist wehrlos den Angaben seiner eigenen Diplomaten ausgesetzt, die nur den einen Fehler begehen, für sich selbst den Anspruch auf die angeblich unbedingte Notwendigkeit der Lüge nicht geltend machen zu wollen.