Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Vevey, 13. Oktober.

Es gibt Leute, die der Meinung sind, dass es auf dem einmal betretenen Weg zur Demokratisierung kein Zurück mehr gibt. Zu stark wäre der Unwille des Volkes gegen die, die den Krieg gemacht und unter trügerischen Versprechungen solange geführt haben, bis es zu dem jetzigen Zusammenbruch kam. Man sollte glauben, dass jene Leute recht haben. Und doch möchte ich mich nicht darauf verlassen. Das deutsche Volk ist zu naiv; es kann immer wieder das Opfer von Leuten werden, die mit seinem Idealismus spekulieren. Ein Volk, das im vierten Jahr des Kriegs den Taschenspielern der Vaterlandspartei nach Millionen Folge leistete, kann immer wieder der Ausbeutung geschickter Macher anheimfallen. Darum muss die Demokratie institutionell festgelegt werden. Unverrückbar festgelegt werden. Die Vertröstung mit der allmählichen Entwicklung der Demokratie nach dem Muster Englands ist gefährlich. Wir haben nicht mehr die Muse zu historischen Prozessen. Wir müssen rasch handeln und ganze Arbeit machen. Das ganze alte Regiment muss fallen. Wenn die Monarchie bleibt, so muss ihr doch jede Möglichkeit zur Alleinherrschaft genommen werden. Die übermenschliche Maschinerie eines heute geführten Krieges kann man nicht mehr dem Gutdünken, dem «bon plaisir» eines einzelnen Menschen überantworten, der sich überdies durch seine Abmachungen mit Gott die Verantwortung leicht macht. Über Krieg und Frieden können nur mehr die Völker entscheiden, soweit sie sich nicht durch den Völkerbundsvertrag hierfür selbst sichernde Fesseln angelegt haben. Auch das neue Volksheer muss aus dem Willensbereich eines einzelnen entrückt werden. Die Machtorganisation des Volkes untersteht dem Volk. Sonst niemandem! Der König der Bulgaren hat sich jetzt, nachdem er sechs Jahre lang mit dem Blut seines Volkes spekuliert hat, auf das Schloss seiner Väter zurückgezogen, um dort seiner angeblichen Lieblingsbeschäftigung, der Botanik, zu obliegen. Es muss den Monarchen in Zukunft ausreichend Gelegenheit geboten werden, botanische Studien und sonstige amüsante Beschäftigungen zu betreiben. Das Regieren übernimmt das Volk.

Rührend ist das Manifest der konservativen Partei in Deutschland:

«Was unseren Vätern und uns heilig und teuer gewesen ist, steht auf dem Spiel: Preußen, der Staat Friedrichs des Großen, für den unsre Väter in den Befreiungskriegen geblutet haben, das Werk der Hohenzollern, das neue Deutschland Wilhelms I. und Bismarcks mit allen seinen Bundesstaaten . . .» Zum Schluss: «Jetzt heißt es dem Helfer im Himmel vertrauen, der unser Volk auch in diesem Krieg bisher sichtbar beschützt hat, und der, wie wir zuversichtlich hoffen, nicht zulassen wird, dass die unendlichen Opfer für die Wahrung unseres Daseins und unsrer nationalen Ehre umsonst gebracht worden seien. Für diese unsere heiligsten Güter wollen wir weiterkämpfen, wenn es sein muss, bis zum letzten Mann. Gott schütze Deutschland!»

Oh! dass man es erleben durfte, diese Fossilien auf den Knien zu sehen und verzweifelte Stoßgebete ausrufen zu hören! Dieser Not- und Hilferuf einer Kaste, unter der unser aller Leben litt. dieses S.O.S.-Signal des untergehenden Purleischiffs der preußischen Junker ist eine Seelenfreude für jeden, der es erleben durfte. Hs ist eines der herrlichsten Momente dieser — unsrer — «großen Zeit».