Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern 19. März.

Die russische Revolution scheint kein unbedachter Verzweiflungsputsch zu sein, sondern eine wohl vorbereitete Unternehmung. Keine Auflehnung des Pöbels mit Mord und Brand, sondern ein Eingreifen der gebildeten und besitzenden Schichten, die man in andern Ländern die «staatserhaltenden» nennt. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne das Mitwirken hoher Kreise und der führenden Militärs. Aus diesem Grund kann schon heute die Revolution als gelungen gelten. Rückschläge können natürlich eintreten, aber sie sind, wie die Verhältnisse jetzt erkennbar werden, wenig wahrscheinlich.

Die russische Umwälzung ist von ungeheurer Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit. Die grosse Gefahr einer europäischen Kosakenherrschaft, die uns bedrohte, wenn es gelungen wäre, die Hoffnungen der Bassermänner und Heydebrands in Deutschland zu erfüllen, scheint überwunden zu sein. Russland, das autokratische Russland, das Russland der Knute, der schwarzen Hundert, der Pogrome, der sibirischen Kerker, erschließt sich den modernen demokratischen Ideen und schafft sich im Sinne der französischen Revolution, Kants, Wilsons, eine Regierung, die der Ausdruck des Volkswillens ist und ihre Macht vom Volk erhält.

Wird Deutschland diesem Ereignis gegenüber bei seinem politischen System verharren können? Wird seine Regierung nicht von ihren Versprechungen zu einer sofortigen Erneuerung übergehen müssen, zur Errichtung eines demokratischen Staates noch während des Kriegs? Diese Frage kann kaum verneint werden. Wenn der Elan des schwergeprüften deutschen Volks nicht vorzeitig und in gefährlicher Weise erlahmen soll, wird man ihm sofort eine Freiheit wie in Russland gewähren müssen.

Das wäre auch der Weg zum Frieden! Das demokratisch orientierte Deutschland fände in der ganzen Welt jenes Vertrauen, das zur Beendigung dieses Kriegs nun einmal unbedingt nötig ist.

Die Umwälzung in Russland hat auch eine tieftraurige Bedeutung. Sie verurteilt aufs neue jene verbrecherischen Ideen, die den Präventivkrieg preisen. Was werden jene jetzt sagen, die den Kriegsausbruch 1914 mit dem frivolen Gedanken zu rechtfertigen suchten und ihn, unter dem Einfluss dieses Gedankens, wohl auch förderten, dass der Krieg in zwei Jahren unter für Deutschland ungünstigeren Verhältnissen hätte geführt werden müssen, dann, wenn Russland erst seine strategischen Bahnen nach der Ostgrenze fertiggestellt haben würde. Wir wiesen den Vertretern solcher oberflächlichen und höchst gefährlichen Ideen darauf hin, dass im Leben «alles fließt», dass veränderte Situationen jede Berechnung, jede Furcht über den Haufen werfen können, und dass sich, aus Furcht für eine künftig mögliche Situation in einen Krieg stürzen, Selbstmord begehen heisst, aus Furcht vor künftigen Zahnschmerzen. Ein Russland, das sich demokratisch umgestalt, hätte diesen Krieg nicht mehr geführt, er wäre der Menschheit erspart geblieben! Und wenn man uns einreden wird, dass es bei Erhaltung des Friedens in Russland nimmer zur Revolution gekommen wäre, so erwidern wir: Leichter und unter weniger Opfern wäre es möglich gewesen, die russische Revolution zu unterstützen und zu entfachen als diesen Krieg zu führen. Statt dessen hat das offizielle Deutschland fortwährend die russische Autokratie unterstützt, hat es dieser oftmals die flüchtenden Revolutionäre ans Messer geliefert. Die umgekehrte Handlung wäre im Interesse des deutschen Volks gelegen gewesen.

Wenn heute aber alldeutsche Zeitungen grinsend und vorwurfsvoll behaupten, dass diese Revolution Englands Werk sei, dann müssen wir doch sagen: Dank England für diese Kulturtat.

Dem Zaren Nikolaus II., dessen Regierung nach 23 Jahren ein so unrühmliches Ende gefunden, muss ich hier doch noch ein Wort des Gedenkens widmen. Er hat einmal das Beste gewollt. Damals, als er in seinem Manifest vom 24. August 1898 die Welt aufrief, «dem drohenden Übel vorzubeugen», war er jedenfalls auf dem richtigen Weg. Damals hatte er das Glück, die richtigen Berater um sich zu haben, und zu einer Tat anzuregen, die ihn vor dem Vergessenwerden in der Geschichte bewahren wird. Die Haager Konferenzen sind Hoffnungskeime. Dass sie die Erwartungen nicht erfüllten, die an sie geknüpft wurden, war nicht des Zaren Schuld. Nach dieser Katastrophe werden die zum Bewusstsein kommenden, die wiedererwachenden Völker, das Haager Werk fortsetzen und zum Heil der kommenden Geschlechter vollenden. — Mehr als andere sind jene Menschen, die sich «von Gottes Gnaden» dünken, die Opfer ihrer Umwelt, die ihr Schicksal wird, wenn sie sich nicht zu meistern verstehen. Dieser Umwelt, über die er sich nicht zu erheben vermochte, ist der «Blutzar» zum Opfer gefallen, der als «Friedenszar» einmal die Möglichkeit besaß, ein Wohltäter der Menschheit zu werden.