Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 20. Mai.

Eine kleine Zeitungsnotiz im «Berliner Tagblatt» vom 18. Mai:

«Gram über den Tod ihrer Kinder hat den 58 Jahre alten Friseur Otto Böttcher und dessen 57 Jahre alte Ehefrau Anna, geborene Growe, in den Tod getrieben. Sie haben sich in ihrer Wohnung, Langestrasse 71, mit Leuchtgas vergiftet. Während ein Sohn des Ehepaars auf dem Schlachtfeld gefallen ist, ging ein zweiter, der zu der Marine eingezogen war, mit einem Schiff unter.»

In den illustrierten Zeitungen sehen wir nur die Bilder der zerstörten Ortschaften, der Ruinen und Wüsten, die der dreijährige Krieg hervorgebracht. Die Ruinen der Menschheit, die er gezeitigt, sind nicht abbildbar. Hie und da beleuchtet solch eine Zeitungsnotiz das Elend für einen Augenblick. Ein Elternpaar, das sich das Leben nimmt, weil seine beiden Söhne dem Krieg zum Opfer gefallen sind. Von einer Million so betroffener Menschen hat vielleicht einer den Mut, das Leben wegzuwerfen. Von diesen hört man. Die andern ziehen weiter als Menschenruinen durch das Leben. Bei Banketten und im Reichstag spricht man dann von den Braven, die «freudig» ihre Söhne dem Vaterland hingaben. Hingaben!

Und in einem «Wiener Brief» des «Bund» (20. V.) liest man folgende neckische Zeitstimme:

«Der Winter war freudlos. Die Landestrauer schloss alle größeren öffentlichen Festlichkeiten aus, die Kohlennot und die Erschwerung im Bezug von Lebensmitteln hat ein gesellschaftliches Leben nicht aufkommen lassen. Der frühe Schluss der Restaurants und Cafés sowie des Betriebs der Tramways hat selbst das gesellige Leben schwer unterbunden. Man kann heute kaum mehr Gäste bei sich sehen. Um so voller sind natürlich die Cafés in den kurzen Abendstunden, während deren sie geöffnet blieben. Man würde aber sehr irren, wollte man etwa daraus schließen dass die Stimmung irgendwie gedrückt wäre. In den überfüllten Cafés geht es immer noch ganz fröhlich zu. In vielen spielt Musik, und mit Recht sagt sich ein jeder, dass, solange unsere Braven sich tapfer zur Wehre stellen, solange die Nachrichten von den Fronten günstig lauten, die Schwierigkeiten. mit denen das Hinterland belastet ist, wenn sie auch nicht angenehm sind, doch im Wesen nicht ins Gewicht fallen können, und dürfen.»

«Nicht ins Gewicht fallen!» Man sollte doch gewissen Schriftstellern drastisch klar machen, dass man das Elend der Zeit nicht durch solche Künste zu übertünchen versuchen soll.