Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 24. Oktober.

Die große Rede, die Lloyd George am 22. bei der Eröffnung der nationalen Wirtschaftscampagne gehalten hat, lässt den Frieden noch in weiter Ferne erscheinen.

Unumwunden legt er vor der Welt dar, das auch England einen Präventivkrieg führt. Er fürchtet, dass ein in diesem Augenblick geschlossener Friede nur zu einem Waffenstillstand führen würde, der schließlich einen weit schrecklicheren Kampf nach sich ziehen müsste. Diesen noch weit schrecklicheren Kampf gilt es, zu vermeiden, denn er müsste «der Tod der Zivilisation» sein.

Präventivkriege sind immer ein Verbrechen, immer gefährlich, wenn man auch unterscheiden muss zwischen der Loslösung eines Präventivkriegs mitten im Frieden und zwischen einem Präventivkrieg, der sich nur als Verlängerung eines bereits vorhandenen Kriegs darstellt. Aber in jedem Fall handelt es sich um ein Mittel, dass einem Selbstmord aus Todesfurcht verteufelt ähnlich sieht. Weiß denn Lloyd George, ob sein Mittel, dass den Tod der Zivilisation verhindern soll, nicht gerade zu dem gefürchteten Ergebnis führt?

Muss denn nicht dieser Krieg, der nach dreieinviertel Jahren zu keinem Ergebnis, keiner Entscheidung geführt hat, wenn er noch um Jahre verlängert wird, nicht den Boden völlig vernichten, auf dem wir stehen?

Und doch muss man zugeben, dass die Bedenken des englischen Staatsmannes nicht unbegründet sind. Es ist ja leider wahr, dass die Geschichte Deutschlands seit mehr als fünfzig Jahren, der Werdegang des Einheitsstaates aus Preußen heraus und die politische Betätigung des gewordenen Reichs, das Vertrauen nicht aufkommen lassen, dass bei einer Beendigung des Kriegs ohne völlige Umwandlung des Systems die Gefahren künftiger Vernichtung, latenten Kriegs und ständiger Unsicherheit bestehen bleiben, alle bisher gebrachten Opfer umsonst gewesen sein würden.

Und doch glaube ich, dass es anders kommen muss, als man es sich heute vorstellt, wie es doch schon so oft, fast immer, anders kam als die Staatsmänner glaubten, vorher zu erkennen. Die Dinge fließen. Es ändern sich die Menschen und ihre Ideen, und nach einem so furchtbaren Erlebnis, wie es dieser Zusammenstoß der Kulturwelt ist, müssen sich die Menschen und ihre Ideen erst recht ändern. Es kann nicht mehr so bleiben wie es gewesen ist. Auch das deutsche Volk wird ein anderes sein, wird anders denken und handeln, wenn es erst den Krieg hinter sich haben und das Unglück, das er ihm gebracht, mit ruhigen Sinnen wird betrachten und ermessen können. Es ist doch schon ein anderes geworden dieses Volk, nur ist sein Denken nicht zu erkennen unter der Herrschaft des Kriegssystems, ist sein Handeln gehemmt durch die militärischen Notwendigkeiten.

Aber diese militärischen Notwendigkeiten müssten jetzt zurücktreten vor der Gefahr der Weltvernichtung, vor der Gefahr der sinnlosen Verlängerung des Kriegs, bis zur Erschöpfung aller Werte des Daseins. Es muss das deutsche Volk die Herrschaft über sein Geschick erringen, sich loslösen von den Banden eines falschen Patriotismus und einer ungezügelten Militärherrschaft, um der Welt aus dem Gefängnis heraus, in dem es sich jetzt befindet, wenigstens ein Zeichen zu geben, dass es nicht der «Aussaß der Menschheit» ist,» wie Bonar Law sich neulich ausdrückte.

Es muss in Deutschland endlich dämmern, dass dieser Krieg für kein Volk Sondervorteile bringen darf, die den Krieg rechtfertigen, ihn heiligen, ihn verewigen würden, und dass das Ziel der Menschheit darin liegt, den Krieg Lügen zu strafen, ihn zu schänden, ihm den Garaus zu machen. Es muss in Deutschland klar werden, dass durch Erreichung dieses Ziels jedes Volk die höchsten Vorteile einheimsen wird, und dass nur ein allen gemeinsamer Vorteil der Welt den Frieden, in diesem Fall den Schuss vor völligem Untergang bringen kann.

Der Verzicht Deutschlands auf Sondervorteile ist unbedingt nötig. Es ist nötig, dass das deutsche Volk erfasse, dass der durch einen solchen Verzicht erreichbare Dauerfriede auch Deutschlands größter Vorteil ist.

Wenn dieses Erfassen nicht möglich ist, nicht rechtzeitig möglich, dann geht die Menschheit geradewegs dem Abgrund zu. Dann ist nichts mehr zu hoffen. Dann können wir uns ruhig Sterbehemden anziehen und den Tod erwarten.

Wird es in Deutschland dämmern? Werden die Siegesberechnungen des an seinem Lebensnerv bedrohten Militarismus noch rechtzeitig als falsch erkannt werden? Dann könnte der Frieden sofort geschlossen werden. Der psychologische Moment ist da. Er wird verpaßt sein, wenn Amerika erst aktiv in den Krieg eingetreten sein wird. Dann gibt es kein Zurück, dann wird der Kampf, der heute um den Sieg geführt wird, um das Dasein Deutschlands geführt werden müssen, und das wird das Ende sein.