Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Interlaken, 25. August.

Mittlerweile hat Italien der Türkei den Krieg erklärt. Grund: Türkische Umtriebe in Lybien, Verhinderung der Abreise italienischer Staatsangehöriger aus Kleinasien. Kriegsgründe sind jetzt so wohlfeil wie Brombeeren. Man darf diese Kriegserklärungen auch nicht mehr als geschichtliche Ereignisse nehmen wie ehedem; sie sind nur strategische Massnahmen.

Mit Amerika steht es wieder auf des Messers Schneide. Bei der Torpillierung der «Arabic» sind einige Amerikaner zugrunde gegangen. Bis jetzt hat die amerikanische Regierung offiziell noch keine Kundgebung erlassen. Durch den Blätterwald des Vierverbands schwirrt es aber von Gerüchten über Abberufung des amerikanischen Gesandten in Berlin und von Krieg. An dieses glaube ich nicht.

Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» setzt die Veröffentlichungen aus belgischen Archiven fort, aus denen bekannt wird, wie die belgischen Gesandten ihre Regierung über die Gefahr gewisser Massnahmen und Stimmungen in Frankreich, England usw. unterrichteten. Die «N.A.Z.» vergisst nur hinzuzufügen, dass jene Massnahmen und Stimmungen die Rückwirkung der deutschen Politik und unverantwortlicher Kreise in Deutschland war, die es verursachten, dass alle andern Länder sich bedroht fühlen mussten. Ich erblicke in diesen Bemühungen der deutschen Regierung, die Schuld am Weltkrieg darzulegen, jene Methode, die ich als sekundäre Kausalität bezeichne. Man geht der Ursache nicht bis auf den Grund nach, sondern bleibt bei der vorletzten Stufe stehen. Das ist die feldmässige Ursachenforschung, die von militärischen Gesichtspunkten geleitet ist, und deren Ergebnis militärischen Zwecken zu dienen hat. Das hat mit den sonstigen Aufgaben der Logik nichts zu tun. Die Mitteilungen der belgischen Gesandten besagen nichts anderes, als dass die politische Atmosphäre auf das gefährlichste mit explosiven Gasen gefüllt war. Sie erweisen umso schwerwiegender die Schuld desjenigen, der in einer solchen Atmosphäre ein Streichholz anzuzünden wagte. Es wäre möglich und menschenwürdig gewesen, die politische Luft zu reinigen. Die Reichstagsverhandlungen vom 20. August jetzt in ausführlicher Wiedergabe gelesen. Staatssekretär Helfferich erklärt, dass die Kriegsausgaben Deutschlands monatlich zwei Milliarden Mark betragen, dass das zweite Kriegsjahr wirtschaftlich schwerer sein wird als das erste. Wahrhaftig ein wahnsinniges Unternehmen solch ein Krieg. Kein Friede kann so faul sein, dass er ihm nicht vorzuziehen wäre. «Es ist die grösste Wertzerstörung und Wertverschiebung, die jemals die Weltgeschichte gesehen hat». So Helfferich. Rechtfertigt dieser Satz nicht allein unsere bisher geleistete Arbeit? Ist einer solchen Kulturvernichtung gegenüber wirklich alles getan worden, um ihr vorzubeugen? Ist die Behauptung des Reichskanzlers, die russische Mobilisierung ist an allem schuld, wirklich noch stichhaltig? Kann mit einer solchen Erklärung auch alles als abgetan angesehen werden? Musste die russische Mobilisierung zum Krieg führen? Und wenn sie es musste, war alles getan worden, um ihr vorzubeugen? Hätte eine kluge Politik nicht darauf hinarbeiten müssen, dass eine solche Gefahr nicht erst entstehe?

Eine Episode aus jener Reichstagsverhandlung sei hier noch vermerkt: «Abg. Liebknecht ruft: ,Wir wollen Frieden!’ Schallende Heiterkeit!» So der Bericht.

Eine Depesche, die Kaiser Wilhelm nach der Einnahme von Nowogeorgiewsk abgesandt hat, ist bemerkenswert. Sie lautet:

«Dank dem gnädigen Beistand Gottes und der bewährten Führung des Eroberers Antwerpens, Generals v. Beseler, sowie der heldenhaften Tapferkeit unserer prächtigen Truppen und der vortrefflichen deutschen und österreich-ungarischen Belagerungsartillerie ist die stärkste und modernste russische Festung Nowogeorgiewsk unser. Tief ergriffen habe ich eben meinen braven Truppen meinen Dank ausgesprochen — sie waren prachtvoller Stimmung — und Eiserne Kreuze ausgeteilt, alles Landwehr und Landsturm. Es ist eine der schönsten Waffentaten der Armee. Die Zitadelle brennt. Lange Kolonnen Gefangener begegneten mir auf der Hin- und Rückfahrt. Die Dörfer wurden meist von den Russen auf ihrem Rückzug total zerstört. Es war ein erhabener Tag, wofür ich in Demut Gott danke. Die Beute in Kowno stieg auf 600 Geschütze».

«Es war ein erhabener Tag». - - -

Ein hübsches Stückchen zitieren die «Hessischen Blätter» (Nr. 5120) aus der «Rheinisch-Westfälischen Zeitung», die sich in ihrer Nummer vom 29. Juli gegen Professor Delbrücks Anrufung Bismarcks als Gegner des Präventivkriegs wendet. Das alldeutsche Blatt meint:

«Zitieren ist eine Kunst; man kann mit Aussprüchen grosser Männer, die sich auf etwa zwei Menschenalter erstrecken, alles beweisen, namentlich mit Bismarckzitaten. Wir haben aus Anlass der Jahrhundertfeier darauf hingewiesen, dass Bismarck nichts verhasster war als die Berufung auf seine früheren Aussprüche, aus denen man einen Widerspruch zu späteren Ansichten feststellen wollte. Er gehöre nicht zu denen, meinte er einmal, die nichts dazulernen können. Das ist in der Tat die Quintessenz der ganzen Bismarckschen Politik. Auf Theorien sich festzulegen, war niemand weniger geneigt als der grosse Kanzler. Er modelte seine Politik je nach den Bedürfnissen. Ihm war die Politik die Kunst des Möglichen und nichts weiter ... Gewiss hat Bismarck, so oft er in spätern Jahren die Möglichkeit eines Präventivkriegs erörterte, sie regelmässig abgelehnt. Ergo schliessen daraus gewisse Historiker, Bismarck hätte nie und nimmer einen derartigen Präventivkrieg geführt. Und doch hat dieser Mann drei Präventivkriege in seinem Leben bewusst herbeigeführt: 1864, 1866 und 1870. Wem das nicht genügt, dem ist nicht zu helfen. Einen Frieden um jeden Preis kannte Bismarck überhaupt nicht, wurde der Friede faul, so griff er zum Schwert.»

Das ist ein Eingeständnis, das einen tiefen Blick in die Geschichts- und politische Moral jener Kreise gestattet. Die Kriege von 1864, 1866 und 1870 also Präventivkriege! Früher durfte man so etwas nicht sagen, ohne der Ketzerei bezichtigt zu werden. Dass der Krieg von 1914 ein Präventivkrieg ist, wird wohl fürderhin keiner mehr bestreiten dürfen.