Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 30. November.

Das Hilfsdienstgesetz im Reichstag. Der Reichskanzler führte gestern die Vorlage mit einer Rede ein. Darin heisst es: «Der unersättliche Krieg rast weiter, unsere Feinde wollen es so.» Und weiter: «Die Feinde wollen den Frieden noch nicht.» Das ist nicht richtig. Auch die Feinde Deutschlands wollen den Krieg nicht weiter rasen lassen. Vielleicht könnte man sagen: Sie wollen den Frieden nicht, den sie von Deutschland glauben gewärtigen zu müssen.

Die Einführung der Bürgerzwangsdienstpflicht ist eine ungeheure Revolution. So sehr man sie vom freiheitlichen Standpunkt auch bedaürn muss, unter den gegebenen Verhältnissen kann sie Gutes bewirken. Sie wird bis in die gleichgültigsten und abgeschlossensten Teile des Volks Verständnis für den Friedensgedanken erwecken. Es ist wahrhaftig werktätige Pazifistische Propaganda, die hier von den Militärbehörden betrieben wird. Wir sollen dankbar sein und etwas wie eine

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ausgleichende Gerechtigkeit darin erblicken. Die Logik der Dinge steht uns zur Seite! Da verbieten die Generalkommandos mit peinlicher Strenge die gesamte pazifistische Aufklärungsliteratur, die vermöge ihrer oftmals theoretischen Wissenschaftlichkeit, meistens auch wegen ihrer nicht sehr volkstümlichen Preise, nur eine kleine Schicht erreichen würde. Auf der andern Seite sind sie aber gezwungen, Einrichtungen zu schaffen, die den letzten Baür zum Nachdenken über Krieg und Frieden bringen und damit zur pazifistischen Weltanschauung bekehren muss.

Der Bürgerzwangsdienst wird auch den Sozialdemokraten die Wege öffnen. Er wird zeigen, was in bezug auf eine Organisation des gesamten Lebens erreicht werden kann, wenn der Wille dazu vorhanden ist, und man wird den sogenannten sozialdemokratischen Zukunftsstaat nicht mehr als Zuchthaus auffassen, wenn man einmal den militärischen Zwangsstaat erlebt hat.

Ich denke jetzt oft an das letzte Aufgebot der Tiroler, das Defregger uns in seinem bekannten Bild versinnlicht hat. Greise und Knaben ziehen da aus mit Äxten und Sensen bewaffnet. Es ist ein anderes letztes Aufgebot, das sich vor uns jetzt abspielt, erhoben aus dem engen Kreis eines kleinen Baürnvolks zur Potenz eines industriellen Riesenvolks. Statt mit Äxten und Sensen zieht es in die Fabriken, um Massenmunition für die modernen Tötemaschinen herzustellen. So von der einen Seite. Bald werden sie so von allen Seiten anmarschieren. Das Blutbad und die Gütervernichtung sind nicht auszudenken, wenn diese letzten Aufgebote aufeinander losstürzen werden.

Völker Europas! Ihr seid von einem bösen Wahn betört, der Teufel in Gestalt wirrer Ideen sitzt euch im Rücken und hetzt euch gegeneinander, um euch blindlings dem Abgrund zuzutreiben. Völker Europas, erwachet! Einst rief man euch zu, auf die Gelben in Asien weisend: «Wahrei eure heiligsten Güter!» Heute muss man auf euch selber weisen und diesen Ruf verändern: Wahret den kleinen Rest, der von euren bereits zertrümmerten heiligsten Gütern noch vorhanden ist!