Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

6. Februar (Wien) 1915.

Gestern zu kurzem Aufenthalt in Wien angekommen. Schmerzlicher Eindruck. Nach langem Aufenthalt in der Schweiz überall das Empfinden der Armseligkeit. Die sogenannte «gute Stimmung» in Wien, von der man in den offiziellen Veröffentlichungen rühmend spricht, ist gemacht und erkünstelt. Es lastet ein Druck über allem. Die neuen Aushebungen greifen tief in das soziale Leben ein. Alles, was Beine hat, dient. Man hofft noch immer auf einen guten Ausgang; ist aber nicht mehr so zuversichtlich wie früher, trotz der Schönfärberei und der Hurrastimmung der Zeitungen. Preise der Lebensmittel hoch. In den niedern Schichten muss das Elend bereits sehr gross sein. Es ist zum Weinen!

Heute veröffentlichen die Zeitungen einen «Dank des Kaisers an die Bevölkerung», der mir als ein wichtiges Dokument erscheint, das hier festzuhalten ist, um später einmal näher darauf eingehen zu können.

«Lieber Graf Stürgkh! Zurückblickend auf den Zeitraum eines halben Jahres, während dessen wir in einem uns durch die feindseligen Absichten unserer Gegner aufgenötigten Kampfe stehen, gedenke Ich dankbaren Herzens der opferfreudigen Haltung, die Meine treuen Völker in dieser schweren Zeit bekundeten.

Von würdiger, ernster Zuversicht beseelt, haben sie sich den grossen Anforderungen der Zeitläufte voll gewachsen gezeigt, haben sie in der edlen Bereitwilligkeit, ihre Söhne zu den Fahnen zu schicken, in einsichtiger Anpassung an die Bedürfnisse der Kriegszeit, in hingebender Fürsorge für die Opfer des Kampfes ihren hohen Patriotismus und ihre altbewährten staatsbürgerlichen Tugenden aufs neue glänzend bewiesen.

Diese wohltuende Erfahrung stärkt Meine Zuversicht, die in dem Vertrauen auf die in heldenmütigen Taten neuerlich so ruhmvoll erprobte Tüchtigkeit Meiner Wehrmacht fest begründet ist.

Unter der Leitung Meiner Regierung, die sich in dem Bestreben, alle Kräfte in den Dienst des uns allen gemeinsamen Zweckes zu stellen, nach wie vor mit Meiner ungarischen Regierung begegnet, wird die Bevölkerung auch fernerhin mit Gut und Blut fest zum geliebten Vaterland stehen. Ich bin dessen gewiss, dass ihr nach Abschluss des Kriegs, dessen schwere Lasten sie bis ans Ende zu tragen freudig entschlossen ist, in dem mit der Hilfe des Allmächtigen zu erringenden Frieden der Lohn aller Mühen, Leiden und Gefahren des treu und beharrlich ausgefochtenen Kampfes beschieden sein wird.

Dieses beauftrage ich Sie mit dem Ausdrucke Meiner wärmsten Anerkennung und Meines Dankes der Bevölkerung zur Kenntnis zu bringen.»

Wien, am 4. Februar 1915.

Franz Joseph m. p.
Stürgkh m. p.»

Deutschland hat die Meere um England herum als Kriegsgebiet erklärt und die Neutralen verwarnt. Die Wiener Blätter bezeichnen dieses Vorhaben bereits als eine «Absperrung» Englands und dessen Aushungerung, während es doch nur eine Belästigung seines Handels sein kann, zu dessen Abwehr es immerhin noch seine stärkste Flotte besitzt. Das Vorgehen Deutschlands ist mutig, an einen Erfolg kann ich aber nicht glauben. Ich fürchte vielmehr eine empfindliche Abwehr und dadurch eine tiefere Verwicklung des Konflikts und Hinausschiebung seiner Beilegung.

Der russische «Regierungsbote» veröffentlicht ein Telegramm, das der Zar am 29. Juli an Kaiser Wilhelm gerichtet hat; darin machte er den Vorschlag, den serbisch-österreichischen Konflikt dem Haager Hof zu überweisen. Dieses Telegramm fehlt in der im deutschen Weissbuch enthaltenen Veröffentlichung des Depeschenwechsels zwischen Kaiser Wilhelm und dem Zaren.

Dass gerade jenes Telegramm von deutscher Seite der Öffentlichkeit vorenthalten wurde, in dem der vernünftigste Vorschlag zur Lösung jenes unseligen Konfliktes gemacht wurde, und dass die abgedruckte Antwort des Kaisers in keiner Weise auf jenen Vorschlag reagiert, ist nicht danach angetan, die Friedensabsicht Deutschlands zu erhärten. Die Begründung, die die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» nunmehr unter Eingeständnis des Eintreffens jener Zarendepesche, die mir im ersten Augenblick als apokryph erschien, veröffentlicht, ist von unerhörter Wässrigkeit. Diese hochwichtige Anregung, die die vernünftigste Lösung des Konflikts und das beste Mittel zur Vermeidung des Kriegs enthält, wird einfach als nicht «für den Gang der Verhandlungen ausschlaggebend» bezeichnet. Nicht ausschlaggebend, ja nicht einmal der Erwähnung wert ein Vorschlag, der jene Lösung enthielt, die die ganze zivilisierte Welt als die einzig richtige bezeichnen muss!

Der Vorschlag des Zaren soll, nach den Mitteilungen der «Nordd. Allg. Ztg.», «angesichts der militärischen Vorbereitungen Russlands gegen Österreich-Ungarn jede sachliche Bedeutung verloren» haben. Das kann man nun nicht einsehen; denn die militärischen Vorbereitungen hätten durch Annahme jenes Vorschlags, selbst wenn sie auf beiden Seiten weiter betrieben worden wären, was durchaus nicht anzunehmen ist, nicht zum Krieg führen brauchen, zu dem sie nach der Ignorierung des Vorschlags geführt haben. Überdies ist der Einwand des «zu spät», der in jenen traurigen Tagen seitens Deutschlands und Österreich-Ungarns allen Friedensvorschlägen gegenüber gemacht wurde, gerade im Hinblick auf den Vorschlag der Erledigung durch den Haager Hof nicht angebracht, da dieser bereits am 25. Juli, also zu einer Zeit, wo militärische Vorbereitungen seitens Russlands noch nicht getroffen waren, von der serbischen Regierung in deren Beantwortung des Ultimatums vorgeschlagen wurde.