Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 22. Oktober.

Gestern abend telephonierte mir ein Freund das Schreckliche, das in Wien geschehen war. Graf Stürgkh, der österreichische Ministerpräsident, erschossen, Dr. Friedrich Adler, der junge österreichische Sozialist und Gelehrte, der Verüber der Tat. Ein politischer Mord, der in seinen Nebenumständen so sehr an jenen erinnert, der in den Anfangsstunden des Kriegs die Menschheit entsetzte. Damals war der Sozialist das Opfer. Zwischen Jaurès und Stürgkh liegen Berge von Leichen.

Und doch war das Entsetzen nicht geringer, als Graf Stürgkh von der Wirtstafel hinweg ins Jenseits befördert wurde, als damals, als dem grossen Friedenswoller das gleiche Schicksal ereilte. Es ist eben nicht wahr, dass uns das Menschenleben nichts gilt! Wir sind gar nicht so abgestumpft, wie wir uns geben, wir besitzen noch voll das Empfindungsvermögen für das Grässliche, das uns seit Jahren umgibt, nur unser Vorstellungsvermögen erscheint ausgeschaltet. Wir entsetzen uns über die Millionen Leichen, die um uns fallen, nur deshalb nicht mehr, weil unser Hirn diese Eindrücke dem Nervensystem nicht mehr übermittelt. Sie bleiben uns eine anonyme Zahl, die da täglich ebenso plötzlich und grässlich hingemordet wird wie der österreichische Minister, und weil wir sie nicht kennen, nicht sterben sehen, die Vernichtung der Persönlichkeit, der bürgerlichen und Familienexistenz nicht wahrnehmen, fühlen wir das unfassbare Massenunglück der Zeit nicht mehr in seiner ganzen Furchtbarkeit. Wir ahnen es bloss; aber nicht im Millionstelverhältnis zu seiner Wirklichkeit. Jetzt fühlen wir an einem Einzelschicksal die entsetzliche Tragik des Mordes, und die Tat soll uns daher nicht vom Krieg abziehen, sondern direkt zu ihm hinführen. Sie gestattet uns für einen Augenblick, wie die Erleuchtung der Nacht durch einen Blitz, das Grauen unseres gegenwärtigen Lebens zu schauen.

Die Beweggründe der Tat sind noch nicht bekannt. Dr. Adler will darüber, wie berichtet wird, vor Gericht Auskunft geben. Dass der Schuss, ob er es zugeben wird oder nicht, aus der ungeheuren Spannung resultiert, die der Krieg über die Menschen gebracht, brauchen wir nicht erst aus der Untersuchung zu hören. Diese wird nur von dem Gesichtspunkte Interesse erwecken, wieso ein Mann von dem Bildungsstand Friedrich Adlers, ein Mann von seiner geläuterten, sittlichen Weltanschauung, die den Mord verdammt, zum Mörder werden konnte, und wieso er dazu kam, in der Tötung des Grafen Stürgkh ein Ziel zu erblicken.

Die psychologischen Zusammenhänge wird die gerichtliche Untersuchung vielleicht klären. Aber viel wichtiger wird es sein, zu erfahren, wie diese schreckliche Tat und der schreckliche Entschluss zu ihr mit dem Krieg zusammenhängt. Der Leitartikel eines Wiener Blattes beginnt zwar mit den Worten: «Das Verbrechen an den Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh kann nicht in den Krieg hineingeheimnisst werden». Welche Scheu, dass der Krieg nur um Gotteswillen nicht mit Blut befleckt werde! - Hoffentlich wird es niemand glauben, denn dann könnte es gefährlich werden. Vogel-Strauß-Politik ist stets, aber am meisten in solchen Zeiten, die wir jetzt durchleben, ein verderbliches Beginnen. Möge der Schuss von Meissl und Schaden das Ende dieser Tragödie einleiten, die mit dem Schuss in der Rue du Faubourg Montmartre begonnen hat.

Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» veröffentlicht einen Bericht des Fürsten Bülow aus Rom vom 23. Mai 1915 über den kurz vor der Abreise der Gesandtschaft erfolgten Besuch des Botschaftsrates von Hindenburg beim Generalsekretär im italienischen Ministerium des Äußern, de Martino. Baron v. Hindenburg hatte den Auftrag, zu erklären, dass die italienischen Truppen bei ihrem Angriff gegen Österreich auch auf deutsche Truppen stossen werden. Aus der Antwort des Herrn de Martino, die Fürst Bülow berichtet, ist folgender Satz bemerkenswert: «Er (de Martino) gäbe sich der Hoffnung hin, dass der Krieg nicht zu animos geführt und auf diese Weise zu einem unheilbaren Bruch zwischen beiden Völkern nicht führen werde.»

Dieser Satz beleuchtet die Vorstellung, die man sich zuweilen in den Fauteuils der Diplomaten vom Krieg macht. — «Nicht zu animos!»Nur ein bisschen erschlagen, ersäufen, blenden, verbrennen, damit die Völker sich nachher wieder lieb haben, die Diplomaten sich begegnen, gegenseitig anbrüdern , die Tapferkeit ihrer Heere gegenseitig rühmen und die Champagnerkelche gegenseitig kreuzen können. — Nicht zu animos! Mit Courtoisie!