Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 3. Dezember.

Die «Frankfurter Zeitung» veröffentlicht in einer Sonderbeilage die faksimilierten Dokumente über den angeblichen Neutralitätsbruch Belgiens, nach der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» vom 25. November. In dem Faksimile befindet sich gleich auf der 1. Seite eine Randbemerkung des Inhalts:

«L’entrée des Anglais en Belgique ne se ferait qu’après la violation de notre neutralité par l’Allemagne».

Auf diese Randbemerkung wird kein Gewicht gelegt, da nach den Aufzeichnungen über die Unterhaltungen des englischen Oberstleutnants Bridges und des belgischen Generals Jungbluth vom 23. April 1912 der erstere gesagt habe, dass «anlässlich der letzten Ereignisse die grossbritannische Regierung bei uns (in Belgien) unmittelbar, selbst wenn wir keine Hilfe verlangt hätten, eine Landung vorgenommen haben würde».

Das ist gewiss bedenklich. Aber eine Verletzung der belgischen Neutralität ist das noch nicht. Denn erstens ist es kein Staatsakt, sondern die Äusserung eines Militärs, zweitens steht in jener Aufzeichnung unmittelbar unter dieser Äusserung der Einwand des belgischen Generals «qu’il faudra pour cela notre consentement» (!)

Und weiter unten:

«Der General hat hinzugefügt, dass wir übrigens vollkommen in der Lage seien, die Deutschen zu hindern, durch Belgien zu marschieren.»

Von belgischer Seite wird hier der Vorschlag einer unverlangten Landung abgelehnt und nur vorgemerkt für den Fall eines deutschen Angriffes.

Ein Neutralitätsbruch seitens Belgiens ist also aus diesem Schriftstück nicht nachzuweisen.

Es bliebe der Versuch Englands, diese Neutralität zu brechen, so dass seine gegenwärtige Haltung, wonach es den Krieg führt, um Belgiens Neutralität zu schützen, als eine Heuchelei angesehen werde.

Es will mir aus all diesen Verabredungen — selbst angenommen, wenn durch sie die englische Regierung gebunden wäre, — absolut nicht erwiesen erscheinen, dass England diese Landungen verabredet hätte, um die Neutralität Belgiens zu brechen. Schon in der Tatsache einer Verabredung mit dem durch einen solchen Bruch zu benachteiligenden Staat liegt die Ausschliessung einer solchen Annahme begründet. Es zeigt sich doch aus jenen Verabredungen und ihrer Niederschrift klar, dass England nur als Schutzmacht der Neutralität auftreten wollte. Es wollte nicht durchmarschieren, sondern Belgien bei der Aufhaltung des Deutschen Durchmarsches unterstützen.

Dies findet leider seine Begründung in der Haltung Deutschlands. Ich habe oben (30. November) schon darauf hingewiesen, wie oft seitens deutscher Militärs der Durchmarsch durch Belgien erörtert worden sei. Jetzt weist die «Gazette de Lausanne» (2. Dezember) auf einen Vortrag hin, den ein Professor Henri Welschinger kürzlich in Bordeaux gehalten habe, (der in den «Débats» vom 27. November wörtlich abgedruckt sein soll) worin nachgewiesen wird, «dass die Verletzung der belgischen Neutralität seitens der deutschen Militärschriftsteller als eine Gewissheit, ja als ein Dogma zugegeben worden ist». Es wird von Welschinger weiter gesagt, «dass es von europäischer Notorität war, dass der Berliner Generalstab die Maxime Moltkes angenommen habe, wonach ein Durchmarsch durch Belgien den Marsch der Mosel- und Rheinarmeen erleichtern und entscheidenden Einfluss auf die Operationen dieser Armeen nehmen würde».

Diese Mitteilungen sind in der Tat von deutscher Seite wiederholt gemacht worden, waren in der Welt nicht unbekannt, so dass es absolut nicht angeht, aus Besprechungen über die eventuelle Abwehr dieser Bedrohung der Neutralität den Schluss zu ziehen, Belgien hätte dadurch schon seine Neutralität gebrochen gehabt, wäre zur Zeit des deutschen Einmarsches nicht mehr neutral gewesen.

Es ist sehr bedauerlich, dass man zu solchen Auslegungen greift, da man dadurch nur zugibt, dass man sich einer unrechten Handlung bewusst ist. Die vom Reichskanzler zuerst ausgegebene Rechtfertigung «Not kennt kein Gebot» ist bisher die anständigste und daher klügste.

* * *

Aus Wien traf gestern abend die Nachricht hier ein, dass die österreichisch-ungarische Armee Belgrad in Besitz genommen habe. Die offizielle Depesche des Korrespondenzbureaus im heutigen «Bund» lautet:

«Seine Majestät erhielten vom Kommandanten nachstehende Huldigungsdepesche: Hochbeglückt bitte ich Eure Majestät am Tage der Vollendung des 66. Jahres Eurer Majestät glorreicher Regierung ehrfurchtsvollste Glückwünsche der fünften Armee, sowie die alleruntertänigste Meldung zu Füssen legen zu dürfen, dass die Stadt Belgrad heute von den Truppen der fünften Armee in Besitz genommen wurde». —

«In Besitz genommen». Nicht erobert. Die Serben scheinen sich zurückgezogen zu haben. Schon am 18. August, an des Kaisers Geburtstag, hat man eine derartige Huldigung (sieh unterm Datum des 18. August) erwartet. Aber noch mehr als Belgrad. Damals sprach man schon von Nisch. Wenn trotzdem, wie es in einer heutigen «Bund»-Depesche heisst, «die Wogen des Patriotismus» in Wien besonders hochschlugen, «als in den ersten Abendstunden die Einnahme Belgrads durch die österreichisch-ungarischen Truppen bekannt wurde», so zeigt dies von grosser Bescheidenheit. Belgrad, das wir genommen haben, dürfte nach viermonatiger Beschiessung ein Trümmerhaufen sein und ist doch nicht mehr als eine Grenzstadt wie Schabatz, da der Sitz der Regierung bereits am 25. Juli nach Nisch verlegt wurde. Und dem Besitz von Belgrad steht heute der Verlust des recht lebendig gebliebenen Lembergs gegenüber, des grössten Teils von Galizien. Ein schlechtes Geschäft! «Die Wogen des Patriotismus» dürften wohl hier nur stark äusserlich gewesen sein, wenn sie nicht ausschliesslich in der Phantasie des offiziellen Reporters bestanden haben.