Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 16. Dezember.

Ein Unstern waltet über diesem Berner Kongress. Zuerst dessen Verhinderung. Nun sollte der internationale Zentralausschuss gestern hier zusammentreten, um über den spätern Zusammentritt des Kongresses zu beraten. Aber die deutsche Grenze ist gesperrt. Die meisten Delegierten können nicht herüber. Ein Spanier, Baron Adelswaerd, der aus Paris kam, und Prof. Koht aus Kristiania waren die einzigen, die eingetroffen waren. Adelswaerd erzählt von den ungeheuren Rüstungen, dem Kriegselan und der Siegesgewissheit in Frankreich und England. Er war an den Fronten, an den Docks der Flotte, in den grossen Rüstungsfabriken und ist dabei zu der Überzeugung gekommen, dass jetzt an Frieden nicht zu denken ist.

Das sind trübe Aussichten. Wenn dieser Krieg zu Ende gekämpft werden soll, dann ist es der Ruin ganz Europas. Schuld daran ist aber die deutsche Expansionsabsicht, die während der Reichstagssitzung vom 9. Dezember mit solch starker Mehrheit zum Ausdruck gekommen ist. Wir hätten den Frieden, wenn die deutsche Regierung deutlich erklären würde, dass sie Annexionen nicht beabsichtigt. Geschieht das nicht, wird dieser Krieg fortgesetzt, dann wird er wirklich zu einem Existenzkampf auf beiden Seiten. Und das wird fürchterlich sein. Wir werden uns noch zurücksehnen nach den Zuständen der ersten achtzehn Monate.

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Ein seltsames Dokument ist das jetzt veröffentlichte Rundschreiben des Reichstagsabgeordneten v. Bonin. Er befürchtet «eine Neuorientierung in der Richtung einer noch grösseren Demokratisierung und Verjudung unserer öffentlichen Zustände». — «Wohin soll das führen?!» ruft er aus. «Soll nach dem Kriege der Zukunftsstaat mit jüdischer Spitze aufgerichtet werden?!» Die Reichsregierung lasse sich durch die Haltung der Sozialdemokratie und des Judentums täuschen. Sie scheine es «diesen Mächten» als ein Verdienst anzurechnen, dass sie die Milliarden bewilligt haben und im Kriege «anscheinend ihre Schuldigkeit tun». «Anscheinend» ist gut! Der edle Landrat a.D. fordert für die innere Gesundung unseres Volkslebens die Unschädlichmachung dieser Mächte usw.

Burgfrieden! — Das Indianertum lebt also noch immer im deutschen Volke. All das vergossene Blut vermochte es noch nicht wegzuspülen. Noch immer nicht? — Es ist höchste Zeit, dass man für diese Rothäute Reservationen schafft, damit die Ausdehnung der Kultur nicht mehr behindert werde.

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Die «Kreuzzeitung» vom 1. Dezember beschäftigt sich mit meinem in der «Neuen Zürcher Zeitung» veröffentlichten Artikel über den «Mitteleuropäischen Staatenverein». Ich hatte dort ausgeführt, dass diese Neubildung, an der in Deutschland und Österreich-Ungarn mit voller Kraft gearbeitet wird, demokratisch orientiert werden müsste. In Deutschland wird die Einführung der Ministerverantwortlichkeit und die verfassungsmässige Vermehrung der Reichstagswahlkreise, in Österreich ein Föderationsstatut, das die Ansprüche der Nationalitäten befriedigt, von nöten sein. Wenn das nicht geschieht, so erleben wir in dem geplanten mitteleuropäischen Staatenverein eine Neuauflage der «Heiligen Allianz», die sich das Europa des zwanzigsten Jahrhunderts noch weniger gefallen lassen wird als das des neunzehnten. Die «Kreuzzeitung» bemerkt dazu:

«Aus den Zeilen des Herrn Dr. Fried liest man deutlich die Angst heraus, dass der künftige mitteleuropäische Wirtschaftsbund, dem nach seiner Ansicht sich auch Russland in irgend einer Form angliedern wird, dereinst ein Hort christlich-monarchischer Gesinnung werden wird». Darin hat das Junkerorgan recht. Diese Angst beherrscht mich. Mich und viele andere. Ich finde es nur unvorsichtig, diesen Wirtschaftsbund, in dem ja auch das Khalifenreich eine wichtige Rolle zu spielen berufen ist, mit dessen Truppen wir jetzt «Schulter an Schulter» kämpfen, als einen Hort christlicher Gesinnung zu bezeichnen. Die neue «Heilige Allianz» wird sich schon dazu herbeilassen müssen, auf christlich-mohamedanischem Boden zu stehen.

Die «Kreuzzeitung» sucht dann nachzuweisen, dass die Demokratie nicht die beste Basis des Wirtschaftslebens sei, sonst müsste Frankreich die weitgehendste wirtschaftliche Entwicklung gefunden haben. Man vergisst, dass Frankreichs wirtschaftliche Rückständigkeit noch von der Nachwirkung des absolutistischen Systems beherrscht wird, während die wahrhaft demokratischen Staaten wie England und Amerika, die den Absolutismus schon länger überwunden haben oder nie von ihm beherrscht wurden, die wirtschaftliche Überlegenheit der Demokratie beweisen. Im übrigen kommt es ja gar nicht auf die Wirtschaft an. Ob das demokratische Regime den Magen und den Geldbeutel befriedigt, ist Nebensache. Dass die Ideale des wahren Menschentums ihre Befriedigung finden, das ist die grosse Forderung der Demokratie. Zu dieser Forderung gehört auch die Sicherheit des Friedens. Hätte in den Zentralstaaten die Demokratie geherrscht, der wahnsinnigste aller Kriege wäre niemals zum Ausbruch gekommen. In der Errichtung der Demokratie erblicken wir daher die realen Garantien des dauernden Friedens.