Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 1. Januar 1915.

So haben wir das Unglücksjahr 1914 überwunden. Ein neuer Zeitabschnitt beginnt, dessen Entwicklung von der gesamten Welt mit höchster Spannung erwartet wird. Als heute Nacht die zwölf Schläge dröhnten, drang sich jedem Lebenden die bange Frage auf: Wird dieses Jahr die Einstellung des Krieges bringen? Und wie wird der Friedensschluss zustande kommen?

Wirklich zwei bange Fragen. Denn für den, der zu ermessen versteht, wie gross die Erschütterungen sind, die diese fünf Kriegsmonate schon herbeigeführt haben, für den mag es immerhin fraglich erscheinen, ob die Sylvesternacht 1915 schon über ein vom Kriege befreites Europa sich niedersenken wird. Der innige Wunsch und das lebhafte Hoffen möge diesen Zweifel beeinträchtigen. Der Verstand muss ihn aufrecht erhalten! Die Entscheidung muss für den unterliegenden Teil so einschneidend sein, dass jeder Teil bis an das Ende seiner Kräfte kämpfen wird. Und wenn der Krieg ergebnislos zu Ende geht, so wird dies von den Streitteilen auch dann erst zugegeben werden, bis bei allen dieses Ende der Kräfte erreicht sein wird. Kann sich Beides im Verlauf von zwölf Monaten ergeben? Und kann, wenn es selbst zu den Einstellungen der Feindseligkeiten kommen sollte, auch der Kampf an dem grünen Tisch der Friedenskonferenz bis dahin beendigt sein. Wir können nur sagen «Vielleicht?» —

Und die andre Frage, die mir noch wichtiger erscheint als die nach der Beendigung des Kriegs, die nach der Gestalt des künftigen Friedens, sie spornt unsre Zukunftserwartungen bis zur Unerträglichkeit an. Wie wird Europa nach diesem Krieg aussehen, welcher Geist wird siegen? Wird der Beginn der Weltorganisation (an die vollendete Organisation ist doch nicht zu denken) bemerkbar sein, oder wird sich die Anarchie vertieft haben? Wird der unglückliche Erdteil dem Verfall und der Auflösung entgegengehen und das Zentrum der Welt nach Amerika sich verschieben? Die Antwort ist jetzt unmöglich. Beide Chancen sind gleichmässig wahrscheinlich. Wir dürfen auf die erstere hoffen, aber von der letztern nicht überrascht sein.

Bei mir trifft das umsoweniger zu, als ich selbst immer darauf hingewiesen habe, dass ein europäischer Krieg notgedrungen eine Herabdrückung der Bedeutung Europas zur Folge haben müsse. Nicht nur deswegen, weil — wie heute viele meinen — durch die Heranziehung andersfarbiger Truppen auf europäische Schlachtfelder das Erwachen der im Europäerdünkel als «inferior» bezeichneten Rassen beschleunigt würde, sondern weil die Lebensbedingungen des Verkehrszeitalters ein stabileres und weniger mittelalterliches Zentrum der Welt erfordern. Es wäre eine ganz natürliche Erscheinung, wenn die alternde Mutter Europa ihren Kindern jenseits der Meere, die sie gezeugt hat, die Herrschaft übergeben müsste.

Traurige Aussichten, aber nicht unwahrscheinliche. Und all dieses soll das Jahr 1915 entscheiden. Man kann es daher begreifen, dass es mit Gefühlen begrüsst wurde, die der lebenden Generation fremd sind.

* * *

Unser Auge forscht heute zurück in die Ereignisse des vergangenen Jahres. — Hat dieser Krieg kommen müssen?

Je mehr man sich in die Vorereignisse vertieft, umso deutlicher erkennt man diesen unverantwortlichen Wahnsinn, umso besser nimmt man die Fäden wahr und die heimliche Maschinerie, die da gegen die ahnungslose Menschheit seit Jahren in Bewegung gesetzt wurde. Es ist ein Unsinn — den übrigens heute kein halbwegs denkender Mensch begeht — den Krieg als eine Folge des Attentats von Sarajevo hinzustellen. Man muss genau unterscheiden zwischen Anlass und Ursache.

Anlass war das Attentat. Es hätte aber auch jedes beliebige Ereignis den Anlass abgeben können. Man hätte sich nicht gescheut, Fälle, wie den des Konsul Prochaska oder des Pater Palitsch zum Ausgangspunkt des Weltkriegs zu machen. Dass man einen «vornehmeren» Grund gefunden hat, war Glückssache. Die den Tod des Erzherzogs so zum Ausgangspunkte des Weltmordes machen, sind sich wohl kaum bewusst, welch unerhörte Leichenschändung sie damit begehen. Noch nie ist ein Toter mit solchem Fluch bedeckt worden wie jener, auf dessen Rechnung eine eiskalte Diplomatie den Mord von Hunderttausenden, das Siechtum von Millionen, den Ruin von Milliarden-Werten gestellt hat. Die wirklich Königstreuen werden vielleicht eines Tages Rechenschaft fordern von diesen eigenartigen Dienern der Monarchie.

Vom Anlass-Gesichtspunkt aus gesehen, gestaltet sich der Krieg immer deutlicher und unter immer uneingeschränkterem Eingeständnis der ihn Billigenden als der «Präventivkrieg», wie ich ihn schon zu Beginn gekennzeichnet habe, als der Krieg, den man für «unvermeidlich» ansah, der deshalb besser jetzt geführt werden musste als in zwei Jahren, wo man sich eine Überlegenheit des gegnerischen Konzerns ausrechnete. Dieser Präventiv-Charakter stimmt ganz gut zu der gleichzeitigen Behauptung des Überfalls und zu der Erklärung, dass er uns «ruchlos aufgezwungen» wurde, wenn man zum Ausgangspunkt nimmt, dass der Überfall seitens der Entente-Mächte fest beabsichtigt war. Unser Angriff ist dann nur eine vernünftige Abwehr. Das ist die militärische Theorie, in die sich die leitenden Staatsmänner haben hineinhetzen lassen, wobei ihnen die Völker unter dem Druck der militärischen Organisation willig folgen mussten.

Und doch ist dieser Krieg nur ein militärisch gewollter Krieg, wobei man mit den wirklichen Notwendigkeiten und mit einer tiefen Einsicht in die Geschehnisse und in die Möglichkeiten ihrer Führung und Ausgleichsfähigkeit nicht rechnete, nicht rechnen wollte. Er ist nicht nur ein rein militärisch erdachter Präventivkrieg, sondern auch ein in Europa schon für unmöglich gehaltener Kabinettskrieg. Ein Krieg der Militärführer und der von ihnen gelenkten Diplomatie.

Wer das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien gestellt und dessen Stellung gebilligt hat, hat den Krieg gewollt. Wer den Grey’schen Vorschlag einer Konferenz zu Vieren abgelehnt hat, hat den Krieg gewollt. Wer den Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn als eine lokale Angelegenheit bezeichnete oder angesehen wissen wollte, hat den Krieg gewollt. Dagegen helfen alle Verdrehungen nichts, keine Deklamationen. Der Krieg war kein Überfall auf Deutschland und Österreich-Ungarn, sondern ein Vorstoss dieser beiden Staaten gegen Europa.
Sie haben den Anlass ergriffen, um den Krieg herbeizuführen.
Damit ist die Frage des Anlasses beantwortet; noch nicht die der Ursache.
Die Untersuchung nach der Ursache ist nicht so einfach abgeschlossen. Diese liegt nicht so an der Oberfläche.

Die deutsche und die österreichisch-ungarische Regierung glauben durch Ausnützung eines äussern Anlasses einem Krieg vorgebeugt zu haben, den die Ententemächte in zwei Jahren unter für die Zentralmächte ungünstigen Verhältnissen unbedingt geführt hätten. Sie fühlten sich von diesen Mächten bedroht und schrieben ihnen die Absicht zu, dass sie ihren Untergang herbeiführen wollten. Die Ausnutzung des Anlasses sei demnach nichts weiter als die Abwehr eines seit langem vorbereiteten Angriffs.

Um die Bedrohung verständlich zu machen führten sie Gründe an: Gegen Österreich-Ungarn, das angeblich ein Lebensinteresse in der Vormachtstellung auf dem Balkan erblickte, hegte Russland die Absicht, es aus dem Balkan zu verdrängen. Die Westmächte wünschten eine Schwächung der Doppelmonarchie, um Deutschland damit in seinem einzigen Bundesgenossen zu treffen, es schliesslich völlig zu isolieren, um es umso besser vernichten zu können.

Gegen Deutschland wirkte, so wird uns klar gemacht, vom Osten her das Gespenst des Panslawismus und seine Ausdehnungsbestrebungen, der Neid Englands gegen Deutschlands sieghafte Wirtschaftskraft, das Rachebedürfnis Frankreichs.

Deutschland fühlte sich — ob mit Recht oder Unrecht bleibe dahingestellt — rings von Feinden umgeben. Das Einzige, was ihm übrig zu bleiben schien, war, sich durch äusserste Kraftanstrengung gegen diese Feindschaft, die zur Umzingelung auszuarten drohte, zu schützen. Es rüstete. Es rüstete im Hinblick auf die Übermacht des Feindes derartig, dass diese es immer mehr zu fürchten begannen und ihrerseits zu Kraftanstrengungen verpflichtet wurden, die sie nur mit Murren ertrugen.

Während Deutschland sich durch sie bedroht fand, was die Entente-Staaten — auch hier sei dahingestellt ob mit Recht oder Unrecht — nicht zugeben wollten, sahen sich jene durch Deutschland bedroht und vermehrten demzufolge jene Massnahmen, die Deutschland wieder als erhöhte Bedrohung ansehen musste, während diejenigen, die sie unternahmen, sie mit Recht wieder nur als Abwehr aufgefasst wissen wollten.

Aus diesem Dilemma, auf dessen geschichtliche Entwicklung ich hier nicht näher eingehen will, gab es nur zwei Auswege: Den der Vernunft und den des Wahnsinns.

Die Vernunft hätte erkennen lassen, dass dieser Wettbewerb der gegenseitigen Bedrohung zur Katastrophe führen müsse, dass alle Schutzmassnahmen nicht nur nichts nützen, sondern den unhaltbaren Zustand noch unhaltbarer machten, dass man, um zu einer vernünftigen Lebensordnung der europäischen Staaten zu gelangen, den Weg ehrlicher Verständigung hätte wählen müssen.

Das wäre der einzige Ausweg gewesen, der die Katastrophe vermeidbar gemacht hätte.

Dieser Weg wurde jedoch nicht eingeschlagen, weil der herrschende Militarismus ihn verrammelte.

Der Militarismus (ich spreche hier nicht nur von dem deutschen und will darunter auch nicht das verstanden wissen, was man in Deutschland seit Ausbruch des Krieges darunter zu verstehen vorgibt, nicht die Schlagkraft des Heeres) schädigte nicht nur als ein fehlerhaftes Mittel, das die gegenseitige Abwehr hervorruft, sondern auch durch den Geist, der von ihm ausging.

Dieser Geist erblickte in jedem Gegner etwas Hassenswertes und Vertrauensunwürdiges. Er stärkte den Glauben, dass nur die Gewalt Lösung und Befreiung bringen könne, dass jeder Versuch auf andere Weise zu einer Lösung der unhaltbaren Verhältnisse zu gelangen, den Verzicht aufs Dasein, den Untergang der staatlichen Existenz bedeute, dass es unehrenhaft sei, eine Gefahr anders abwehren zu wollen als durch das Schwert.

So verrammelte der Militarismus den Weg zur Vernunft.

Es ereignete sich, dass eine Einrichtung, die ein Mittel zu einem bestimmten Zweck sein sollte, — das Mittel zur Abwendung einer Gefahr — Selbstzweck wurde. Die Armeen waren nicht mehr da, um dem Vaterland zu dienen. Das Vaterland wurde in den Dienst der Armeen gestellt. Aus dieser Umkehrung heraus entwickelte sich jener Geist, der jede den Krieg bekämpfende Anschauung als eine Schwächung der Armeen und somit des Vaterlands erscheinen liess. Durch eine weitgehende Bearbeitung der öffentlichen Meinung durch die Presse und bestimmte Organisationen, durch patriotische Feste, durch Entwicklung einer eigenen Philosophie der Gewalt und einer eigenen Staats- und Geschichtsauffassung wurde die Psyche der Völker nach jener Richtung hin bearbeitet, die von der Vernunft fort und zum Wahnsinn hintrieb.

Das war nicht nur in Deutschland der Fall, sondern in ganz Europa. Nur nahm diese Militarisierung der Geister, dem Temperament und des Volkes entsprechend eine in jedem Lande andere Gestalt an.

So musste denn von den beiden Auswegen, die Europa aus dem Dilemma herausführen konnten, jenes eingeschlagen werden, das nicht von der Vernunft gewiesen war. So kam der Krieg!

Die Ursache für diesen Krieg lag daher nicht allein in Deutschland, sondern in dem militaristischen System Europas. Die Schuld, ihn schliesslich veranlasst zu haben, trifft Deutschland. Und das ist keine leichte Schuld. Denn man kann sich der Ansicht nicht entschlagen, dass schliesslich bei einer Verlängerung des Dilemmas seine Unhaltbarkeit den Völkern so klar geworden wäre, dass es doch noch zu einem trockenen Bankerott des Militarismus gekommen wäre. Diese Hoffnung beseelte den Pazifismus. Er sah die Katastrophe kommen, wähnte jedoch, durch möglichst lange Hinausschiebung die Vernunft doch noch zur Herrschaft gelangen zu sehen.

Nun liegen Hunderttausende tot auf den Feldern. Tatmenschen der Jugend vernichtet! — Nun kriecht die Million der Krüppel und der durch Siechtum vom Tode gezeichneten durch die Länder. Nun brennen die Produkte der Arbeit, die Wohnstätten, die Denkmäler der Geschichte. Nun stockt die Arbeit, liegen die Schiffe müssig in den Häfen, und der Geist des Hasses frisst an der Menschheit.

Und all das, weil wir unsern Geist durch militaristische Phrasen durchdringen liessen, sodass er die Stimme der Vernunft nicht mehr zu vernehmen vermochte. Um Gespenster Willen, die der Militarismus unserm von ihm benebelten Geist gezeigt, blutet die Menschheit aus Millionen Wunden, ist die Erde ein satanisch besudelter Haufen. Fluch ihm!