Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

6. September 1914.

Lemberg ist geräumt worden. Auch sollen Czernowitz, Brody, Tarnopol in russischen Händen sein. Kurz, die Bukowina, das östliche Galizien mit der Landeshauptstadt. Öffentlich ist es noch nicht bekannt gemacht. Es schimmert durch die Zeilen. Man hofft anscheinend, den Schlag bald zurückgeben zu können. Erfreulich ist die Situation nicht. Die Russen im Vormarsch! Und was diese negativen Erfolge bereits an Menschen und Gütern gekostet haben! Was sie noch kosten werden!

Dabei liest man Sätze wie folgende («N. Fr. Pr.» 5. September) «Dieser Krieg steht in der Weltgeschichte einzig da, nicht nur wegen seines ungeheuren Umfangs, sondern auch deshalb, weil fast alle Staaten, die an ihm beteiligt sind, ihn gegen ihren Willen führen. Gewollt ist der Krieg nur von Russland, und selbst das ist in vollem Umfang nicht richtig . . .» Das sind Worte, die einem das Herz zusammenkrampfen machen und aufschreien lassen, weil sie so furchtbar wahr sind. Das sind also diese notwendigen, ewigen und schicksalsgewollten Kriege, die alle beteiligten Staaten gegen ihren Willen führen! Wann endlich wird der Wille derjenigen, die die Hauptlast des Krieges auf sich nehmen, das Entscheidende für die Führung oder Unterlassung der Kriege werden!

Rasende Entwicklung des Kriegs in Frankreich. Paris wird bereits für die Belagerung vorbereitet. Mein schönes trauliches Paris, das ich liebe, wie meine eigene Vaterstadt. Ich musste zwar immer, wenn ich in den Strassen und in der Umgebung von Paris spazieren ging, an die Zeit des Krieges von 1870/71 und die Belagerung denken, aber wie an ein Ereignis, das hinter uns lag, weit wie die Zerstörung von Troja. Dass es noch einmal sich ereignen sollte, kam mir nicht in den Sinn. So stand ich noch in diesem Juni auf dem Balkon der 5. Etage des Grand Hotel und blickte auf das Leben und Treiben der Boulevards hinab. Dass all dieses Getriebe in wenigen Wochen durch den Krieg gestört werden würde, daran dachte ich nicht und mit mir wohl niemand.

Die Franzosen scheinen diesmal Paris wohl verteidigen, aber nicht zum Schwerpunkt der Aktion machen zu wollen. Sie dürften die Absicht haben, die Deutschen tief ins Land hineinzulocken, wahrscheinlich von der Idee ausgehend, dass die deutsche Armee umso schwächer wird, je weiter sie sich entwickeln muss. Diese Absicht zu erkennen, wird aber den deutschen Heerführern auch nicht schwer werden. Immerhin scheint mir dieses Vorgehen Frankreichs zu beweisen, dass man sich auf eine lange Dauer des Krieges einrichtet. In diesen Tagen dürfte es zu jener Krisis kommen, die die Entscheidung bringt zwischen kurzem oder sehr langem Krieg. Für Deutschland und Österreich-Ungarn wäre ein baldiger Friede der grösste Vorteil, er könnte aber nur unter sehr milden Bedingungen geschlossen werden. Wenn die Bramarbasse der Alldeutschen und die Wehrvereinler jedoch ihre Wünsche und Hoffnungen werden durchsetzen wollen, wird es zu einem raschen Frieden nicht kommen und erst nach einer Erschöpfung beider Teile ein solider Friede herbeigeführt werden können. Was das bei den modernen Kriegsmitteln und den heutigen Riesenheeren bedeutet, ist nicht auszudenken. Amerika hätte jetzt eine grosse Aufgabe zu erfüllen. Jetzt, ehe Deutschland in Paris steht, jetzt wo sich Österreich und Russland noch gleicher Siege und gleicher Niederlagen erfreuen. Jetzt! In dieser Woche zwischen dem 6. und 14. September. Jetzt! Ehe noch einige Neutrale ihre Neutralität aufgeben. Es muss einen Ausweg geben aus diesem Bruderkrieg aller europäischer Kulturvölker, der einmal ebenso zu vergessen versucht werden wird, wie der deutsche Bruderkrieg von 1866 vergessen worden ist. Diese Bundesgenossenschaft des Westens mit dem Zarismus ist nicht echt; war es niemals. Sie war ein Notbehelf. Ein Rüstungsmittel Frankreichs, das seine Menschenarmut ausgleichen wollte durch einen an Menschen reichen Verbündeten. Ein verwerfliches Rüstungsmittel, aber immerhin ein begreifliches. Deutschland war bei diesem unnatürlichen Bunde nicht ganz frei von Schuld. Das Deutschland nach dem 4. August 1914, das Deutschland, das keine Partei- und keine Konfessionsunterschiede anerkennt, ist aber auch ein anderes geworden als das vor jener Zeit, wo das Junkertum und eine rüstungstreibende kleine Aggressivpartei die Nachbarn in Furcht vor der Zukunft hielten. Dieser Krieg, wenn er rechtzeitig gekürzt wird, ehe er zum gegenseitigen Vernichtungskrieg ausartet, kann das Band der Kulturvölker festigen und Deutschland und Österreich-Ungarn mit den Westmächten zu einem geeinigten Europa verbinden.