Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 7. Juni.

Die Delegierten der österreichischen Sozialdemokratie bezeichneten in ihrer vor der Stockholmer Konferenz abgegebenen Erklärung «die bürgerlichen Regierungen und herrschenden Bourgeoisien in gleicher Weise für den Krieg objektiv verantwortlich». Diese weitherzige Beantwortung der Schuldfrage hat Widersprüche auf allen Seiten hervorgerufen. Am drolligsten ist aber die Abwehr des «Pester Lloyd» (Lt.-Art. vom 26. Mai). Darin heißt es:

«Dass dies in der Tat ein gerechter Krieg, ein Krieg der Verteidigung gegen ungerechte Angreifer ist, darüber ist die öffentliche Meinung Ungarns und der Monarchie vom ersten Tag an bis zum heutigen vollkommen und in tiefster Aufrichtigkeit einig. In dieser Überzeugung lässt sie sich auch keineswegs irremachen durch die vielleicht wohlgemeinten Versuche dogmatisch festgerannter Gruppen und vereinzelter Ideologen, die alleinige Schuld unserer Feinde an der Heraufführung der Weltkatastrophe zu leugnen und eine allgemeine und gleiche Schuld aller Kriegführenden zu konstruieren (!). In den zivilrechtlichen Streitigkeiten von einzelnen hat das Bestreben des Richters, an Stelle des Recht und Unrecht gegeneinander abgrenzenden Urteils, den die Schuldfrage verwischenden und umgehenden Ausgleich zu setzen, seinen gebührenden Platz. Für den Streit, um den es sich heute handelt, wird aber der sittlich empfindende (!) Mensch solches Verfahren ablehnen, auch wenn es von solchen empfohlen wird, die vermeinen oder vorgeben, damit der Sache des Friedens zu dienen.»

Man kann mit dieser Ansicht des offiziösen Blatts vollständig einverstanden sein: Die Schuld muss festgestellt werden.

Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung » trägt in den letzten Tagen eine gewisse Nervosität zur Schau durch Wiedergabe von Dokumenten (Brief Benckendorff’s an Sasanow) und anderen Erzählungen über die Schuld am Kriegsausbruch. Erzeugt wurde diese Nervosität durch die von Ribot kürzlich in der Kammer gemachte Mitteilung, dass er sämtliche Akten zur Vorgeschichte des Kriegs zu veröffentlichen gedenke. Es scheint, als ob wichtige Schriftstücke aus dem Geheimkabinett des Zaren und des russischen Ministeriums des Äußern in die Hände der russischen Revolutionäre gefallen sind. Vielleicht erfahren wir binnen kurzem weitere Aufklärungen über die Kriegsschuld.