Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 2. Juni.

Nach dem Krieg wird es sich lohnen, einmal nachzuforschen, wie sehr die Internationalität der Familien bereits ausgebildet war, und wie sehr diese darunter gelitten haben. Dass es unzählige Ehen gibt zwischen Angehörigen der jetzt feindlichen Staaten ist bekannt, viel tragischer ist aber die so häufig beobachtete Tatsache, dass die Kinder ein und derselben Familie verschiedenen Nationalitäten angehören. So habe ich von Fällen gehört, wo ein Sohn in der deutschen, der andre in der italienischen Armee kämpft. Ähnliche Fälle gibt es zahlreich unter den Elsässern. Ich lernte einen Mann kennen, der von Geburt Deutscher ist, eine Französin heiratete und die französische Staatsbürgerschaft erwarb, ohne die deutsche aufzugeben. Dieser wird jetzt von beiden Ländern zur Ableistung der Dienstpflicht reklamiert. Schrecklich ist die Lage derjenigen Menschen, die, an den Krieg nicht denkend, seit Jahrzehnten in einem fremden Lande lebten, das ihnen zur Heimat wurde, und die plötzlich aus dieser wirklichen Heimat als Landesfremde und Landesfeinde fort mussten, während sie in der ursprünglichen Heimat tatsächlich Fremde geworden sind. Gestern lernte ich hier einen Deutschen kennen, der seit 40 Jahren in Mailand lebt und, da er seines Lebens nicht sicher war, bei Nacht und Nebel nach der Schweiz flüchten musste. Sein Sohn dient jedoch in der italienischen Armee. Die Tochter ist an einen Italiener verheiratet, der natürlich ebenfalls in der Armee dient. Hier, an diesen Verzweigungen der persönlichen Lebensverhältnisse, zeigt es sich am deutlichsten, wie widersinnig der Krieg in Europa ist.

Die Pöbelhandlungen in Mailand, die Zerstörung von Geschäften und Wohnungen von Deutschen oder solchen Personen, die deutsche Namen tragen, sind furchtbar. So etwas ist in Deutschland und Österreich nicht vorgekommen. Die Strasse benahm sich vornehm. Nur die Intellektuellen demolierten und exzedierten bei uns.

In Tirol und Kärnten sollen sich bereits 12,000 Freiwillige zur Verteidigung der Heimaterde gegen den italienischen Eindringling gemeldet haben. Darunter solche zwischen 50 bis 70 Jahren. Ich fürchte, dass es dort zu Franktireur-Handlungen kommen kann. Tirol ist der klassische Boden des Franktireurtums.

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Ich bekam heute ein Schreiben von Frau H. in Leipzig, worin sie sich bei mir für die zugunsten ihres in England gefangenen Sohnes Edgar unternommenen Nachforschungen bedankt. Gleichzeitig teilt sie mir mit, dass ihr ältester Sohn vorgestern «einem amerikanischen Geschoss zum Opfer fiel».

Diese Redewendung gibt zu denken. So ist es denn unsern Hassaposteln glücklich gelungen, den blinden Hass, den sie gegen England entfacht haben, auch auf die Vereinigten Staaten zu übertragen. Unsere Söhne fallen nicht mehr dem im Krieg mit uns befindlichen Feind zum Opfer, wie deren Söhne uns, sondern auch Amerika, das die Geschosse liefert.

Es ist also möglich gewesen, im Volk die Meinung zu verbreiten, dass die Engländer, und wohl auch die Franzosen, den Krieg überhaupt nicht mehr weiter führen könnten, wenn sie nicht Kriegsmaterial von Amerika bekämen. Welche ungeheuerliche Verdrehung der Tatsachen! Dass Amerika Kriegsmaterial an England liefert, ist zwar kein Bruch der Neutralität, denn die Lieferung von Kriegsmaterial ist den Neutralen aus den internationalen Verträgen zugestanden, kann aber, wo es durch die Verhältnisse ausserstande ist, uns welche zu liefern, sicher nicht als Wohlwollen angesehen werden. Glaubt man aber im Ernst, dass England, wenn es von Amerika nichts geliefert bekäme, ohne Geschosse dastehen würde und unsre Krieger am Leben blieben? — Es ist doch klar, dass ein Reich von der Grösse des britischen sich das nötige Material anders beschaffen würde. Es könnte dies im eignen Lande erzeugen, aus Kanada, aus Skandinavien oder Südamerika und von weiss Gott wo noch her beziehen. Dann darf man aber nicht sagen, dass Amerika unsre Krieger tötet, um damit unnötige und unberechtigte Hassgefühle im Volk zu erregen, das man damit täuscht. Getötet werden unsre Söhne durch den Krieg, einerlei woher der Gegner sein Vernichtungsmaterial nimmt.

Es ist eine Torheit, glauben zu machen, die 5000 mit der «Lusitania» untergegangenen Munitionskisten haben nur einen Deutschen am Leben erhalten. Das durch den deutschen Torpedoschuss vernichtete Kriegsmaterial wird einfach durch andres ersetzt werden. Darum kann ich für die gleichzeitige Vernichtung von 1500 Menschenleben jenen Trost nicht finden, durch die sich sehr viele Deutsche über das «Lusitania»-Unglück hinwegsetzen, dass deren Tod ebensovielen deutschen Kriegern das Leben gerettet hätte. Das ist ein Trugschluss.

Mit welchem Recht ereifert man sich jetzt so sehr darüber, dass die amerikanische Rüstungsindustrie den Gegnern Deutschlands Waffen liefert, wo wir doch gezwungen sind, gegen Waffen zu kämpfen, die den Feinden Deutschlands von der deutschen Waffenindustrie geliefert wurden? Abgesehen davon, dass in den amerikanischen Waffenfabriken zu 25 % deutsches Kapital und in grosser Zahl deutsche Arbeiter arbeiten sollen, hat man doch in Deutschland unbesorgt Russland mit Waffen oder mit Kapital für Waffen versorgt. Es ist nur durch die französische Konkurrenz vereitelt worden, dass sich Anfang Januar 1914 (!) die Deutsche Bank und die Firma Krupp mit 25 Millionen Rubel an den Putilow-Werken beteiligt hätten. Was der deutschen Rüstungsindustrie nicht gelang, ist der österreichischen gelungen. Im Februar des grossen Kriegsjahrs noch haben Vertreter der Skoda-Werke mit Unterstützung österreichischer Banken mit den Newski-Werken in Petersburg eine Vereinbarung getroffen, zur Errichtung einer Stahlhütte für die Versorgung der russischen Artillerie und der russischen Kriegsmarine mit in Russland erzeugtem Stahl. Damals schrieb die «Wiener Arbeiterzeitung» prophetisch: «Wenn also dereinst aus russischen Kanonen die mordenden Geschosse gegen unsre Söhne sausen, werden wir wenigstens die Beruhigung haben, dass die Stahlrohre vom österreichischen Kapital gegossen worden sind».

Wie oft haben wir Pazifisten auf das Unerträgliche, ja Unsittliche des internationalen Rüstungshandels hingewiesen, haben wir die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie gefordert. Damals hat man uns verlacht und das Rüstungsgeschäft nach dem Ausland als durchaus nicht unpatriotisch bezeichnet.

Ich erinnere mich hier an die Reichstagssitzung vom 19. Februar 1914 (!), wo der Abgeordnete Noske auf den Übelstand hingewiesen, der darin besteht, dass deutsche Firmen und deutsche Arbeiter Russlands Flotte bauen helfen. Daraufhin sind in der selben Sitzung zwei Erwiderungen gefallen, die nach dem Wortlaut des stenographischen Protokolls hier festgehalten seien. Staatssekretär von Tirpitz sagte:

«Ferner hai Herr Noske davon gesprochen, dass deutsche Firmen für Russland bauen. Ja, Russland will sich eine Flotte schaffen. Wenn unsre Firmen den Bau ablehnen, wird sie eben von andern gebaut. (Sehr gut!) Wir bemühen uns ja gerade, für unsre Privatindustrie Arbeit zu schaffen. Und Herr Noske ist auch nicht so sehr böse gewesen über die Entsendung eines Marine-Attaches nach Buenos-Ayres, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Es ist doch nicht zweckmässig, wenn irgend ein andres Land — ich will es gar nicht mit Namen nennen — das Monopol für Kriegsschiffe erhält. (Sehr richtig). Im Gegenteil. Also den Vorwurf, dass unsre Firmen unpatriotisch handeln, kann ich nicht anerkennen».

Abg. Erzberger (Zentrum) sagte:

«Es ist mir ganz unbegreiflich, wie der Herr Kollege Noske, ausgerechnet der Vertreter einer Partei, die die Vertretung der Arbeiterinteressen in erster Linie sich angelegen sein lassen will, dagegen Stellung nimmt, dass deutsche Firmen suchen, Einfluss auf russische Firmen und Rüstungsfabrikanten zu gewinnen. Ob Deutschland für Russland etwas baut oder nicht, das kann an den dortigen Rüstungen nichts ändern. Aber wenn Deutschland zurücksteht und sich nicht um russische Aufträge bemüht,

so werden jedes Jahr Millionen weniger in das deutsche Vaterland hereinfliessen.

Ganz klar ist, dass die Engländer und die Franzosen sich die Hände reiben, wenn wir diese Politik des Verzichts öffentlich proklamieren und durchführen würden» (Sehr richtig!)

Und so kommt es, dass nicht nur amerikanische Geschosse gegen unsere Krieger losgehen, sondern auch deutsche. Es waren Kruppgeschütze, die, von japanischen Schiffen abgefeuert, die deutschen Kriegsschiffe bei den Falklandsinseln in den Grund bohrten. Es sind Kruppgeschütze, die jetzt Italien gegen uns verwendet. Wenn man aber die Versorgung der Gegner mit Waffen und Munition eigner Fabrikation nicht als unpatriotische Handlung bezeichnet, warum nimmt man jetzt den Waffenhandel Amerikas so ernst.

Die Lehre dieses Ereignisses ist die: Man verstaatliche die Rüstungen, verhindere den Rüstungshandel nach ausserhalb, und man wird den Krieg verhindern.