Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. Februar.

Seit dem 6. Februar tagt in Weimar die deutsche Nationalversammlung. Sie ist aus allgemeinen Wahlen aller mündigen Männer und Frauen Deutschlands hervorgegangen. Es haben über 15 Millionen für die bürgerlichen, über 13 Millionen für die sozialistischen Parteien gestimmt. Die Demokratie, die sozialistische und die bürgerliche, hat das Übergewicht. Unter den Gewählten befindet sich auch eine Anzahl Frauen. Freilich sind unter den Boten, die das schwergeprüfte Volk ausgesandt hat, auch viele von den alten Gestalten, von den alten Geistern, viele von jenen, die den Krieg in allen seinen Phasen mitgemacht haben, und die sich jetzt der neuen Lage der Dinge anzupassen suchen. Das ist bedauerlich, ist sogar sehr bedauerlich, aber woher sollen die Menschen neuen Geistes, soll die Unkompromittiertheit kommen nach einem halben Jahrhundert der Verblendung, der geistigen Korruption. Das Volk, das so schwer gelitten, das unter dem Zustand des harten Waffenstillstands noch mehr leidet als durch den Krieg, hat ja noch nicht Zeit gehabt, seine Führer, die von neuem Geist geprüften Männer und Frauen, hervorzubringen. Auch dazu bedarf es der Zeit. Dass dem so ist, das muss das deutsche Volk mit den anderen Übeln mitertragen. Es wird noch viel darunter zu leiden haben. Die meisten der heutigen Führer haben nicht den Weitblick, nicht das psychologische Feingefühl, um in Worten und Taten, Versündigungen gegen die Mentalität der Feinde, Verstöße gegen das nun einmal herrschende Misstrauen zu vermeiden. Man glaubt noch immer mit störrischem Stolz und mit dem Brustton der Überzeugung wie der Entrüstung am besten wirken zu können. Sich bescheiden hat jene auch dieser Unheilskrieg nicht gelehrt. Man will ein neues Reich erbauen, ein Reich modernen Geistes, man geht zu diesem Zweck nach Weimar, hat aber, bei aller Sinnigkeit, die darin liegt, die Potsdamer Stiefel nicht ausgezogen.

Nicht immer aus den Worten, aber zwischen diesen durch tönt jener altpreußische Ton, der nach außen glauben machen will, man habe nun einmal Pech gehabt Na, das kann eben auch mal passieren, im übrigen lassen wir uns nicht an die Wimpern klimpern, und wir werden euch nun bald wieder zeigen, was wir können, und wer wir sind. — Du lieber Gott! Man hat eben nicht das Bewusstsein, dass im Namen dieses Volkes die Welt an ihren vier Ecken in Brand gesteckt wurde, und dass man vor dem Hass- und Vernichtungswillen der Verbrannten und Versengten andre Töne anstimmen muss. Büßerstimmung, Büßerstimmung aller, aber ehrliche, aus dem Innersten kommende, nicht eigens mit merkbarer Absicht gemimte, könnte Vertrauen einflößen und Versöhnung anbahnen.

Seht ihr denn nicht, dass sie draußen noch immer zittern, und dass sie, je mehr sie zittern, die Gunst des Augenblicks ausnützen bestrebt sind. Wisst ihr nicht, dass es keine so harte, keine so demütigende Maßnahme gibt, die durch die Wahnsinnstaten unsrer eigenen Militärs gegen Besiegte gezeitigt würde? Für jede Härte haben die, die in unserem Namen viereinhalb Jahre die Menschheit schändeten , die Präzedenzfälle geschaffen. Seht ihr noch nicht ein, das nur der unzweideutige Ruck von jenem Weg den Feinden die Furcht vor der Zukunft, euch eine erträgliche Gegenwart bereiten kann? Warum musste denn der Staatssekretär Preuß seine Rede mit den draußen zwar missverstandenen, aber darum nun einmal doch verpönten Worten «Deutschland über alles schließen, warum musste ein Mann wie David zum Präsidenten der Nationalversammlung ernannt werden, der wie kein Reaktionär die Unschuld Deutschlands am Weltkrieg, die Schuld der anderen behauptete? Warum durfte der nationalistische Klüngel hei der Erwähnung, dass es mit dem Fürsten- und Gottesgnadentum in Deutschland für immer vorbei sei, sein zynisches «abwarten » ungerügt, ungeahndet, ohne von einem Sturm der Entrüstung aus dem Saal gefegt zu werden, ausrufen? Solche Worte, solche Geberden, solche Haltungen und Gesinnungen kosten nur neues Blut, nur neues Leben. Schon rechnen die unersättlichen und unbelehrbaren Militärs drüben zusammen, wie sie die neuen Bedingungen für die Waffenstillstandsverlängerung noch härter, noch lebeneinschneidender gestalten können. In wenigen Tagen werdet ihr die Fehler von Weimar mit neuen Lebenswerten bezahlen müssen.

Und trotzdem . . . die deutsche Nationalversammlung, die die deutsche Republik errichtet, die eine demokratische Mehrheit hat, deren stärkste Partei die Sozialdemokratie ist, sie ist ein Fortschritt, eine Heilsetappe auf dem Wege des deutschen Volkes, der Menschheit. Mögen ihre Fehler und Mängel noch so groß sein; hadern wir nicht. Dass wir es erleben durften, ist eine Erhöhung unseres Daseins. Es ist etwas geworden, dessen Erfüllung wir nicht einmal im Traum zu erleben hoffen durften. Es wird daraus noch mehr werden. Genesung verheißt das Ereignis. Genesung, nicht nach der Richtung nach Potsdam, wie die Welt fürchtet, sondern in der Richtung nach Weimar. Jetzt in Weimar, nicht damals in Versailles, wird die deutsche Einheit und Größe geboren. Dieses zur Republik erwachte Volk wird die Kraft haben, den Konfliktstoff, der noch in seinem Innern ist, ganz auszuscheiden. Es wird genesen, zur Freude und zum Wohl der ganzen Menschheit genesen. Trotzalledem!