Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 29. Mai.

Die Offensive im Westen hat wieder begonnen. Man ist an der Aisne losgebrochen und meldet Erfolge. Die deutschen Telegramme sprechen von siegreichem Ansturm auf die Höhen des Chemin des Dames, dem Überschreiten der Aisne und 15 000 Gefangenen. Die Pariser Telegramme sprechen von planvollem Rückzug und bezeichnen die deutschen Vorstöße als «übliche Anfangserfolge». Die Einbruchstelle weist nach Paris. Die deutschen Erfolge gefährden die französische Hauptstadt, in der Fliegerraids und das wieder aufgenommene Spielen der weittragenden Geschütze die Nähe und das Nahen des Feindes bekunden. Es wird wieder ein unerhörtes Morden und Zerstören werden. Und mit welchem Zweck? Glaubt man in Deutschland wirklich noch immer mit solchen Gewaltsprüngen den Frieden zu erzwingen? Graf Hertling soll kürzlich, als ihn ein ungarischer Journalist ausfragte, über den Gedanken eines Völkerbundes «skeptisch gelächelt» haben. Ist dieses skeptische Lächeln nicht eher angebracht den törichten Gewaltversuchen der deutschen Militärleitung gegenüber, die da glaubt, durch blutigstes Vorstürmen auf dem französischen Gelände, England, die Vereinigten Staaten, Südamerika, Japan, China zum Frieden zwingen zu können. All dieser angewandten Kraft fehlt die Transmission, die sie umzusetzen vermag in Zweck. Aber der starrköpfige Versuch wird furchtbar werden. Allen, denen Vernunft geblieben, wird schweres Leid zuteil werden. Da las ich neulich, dass Asmundsen eine neue Nordpolfahrt unternimmt. Welch erlösender Gedanke, so auf drei bis vier Jahre das totkranke Europa verlassen zu können, fern von all dem Wahnsinn in wilder Einöde leben, um dann eines Tages nachsehen zu können, was von dem alten Kultur-Erdteil noch übrig geblieben ist.