Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 15. Juli.

Bethmann-Hollweg ist nicht mehr Reichskanzler! Sein Nachfolger ist der bisherige Staatssekretär für das Ernährungsamt Dr. Michaelis.

Die Art, wie die Nachrichten aus Berlin kommen, lassen erkennen, dass sich dort Dinge ereignen, über deren Umfang und Tragweite man noch völlig im unklaren ist. Alles wird nur gerüchtweise gemeldet. Es fehlt an offiziellen Kundgebungen. Auch die Nachricht vom Kanzlerwechsel wird eingeleitet mit den Worten «wie jetzt feststeht.» Also auch nur eine Behauptung, aber keine offizielle Ankündigung. Immerhin, es scheint richtig zu sein. Bethmann-Hollweg, der letzte von den führenden Staatsmännern, die bei Ausbruch des Kriegs im Amt waren, hat dieses verlassen. Das ist an sich ein Fortschritt auf dem Weg des Friedens, aber auch insofern, als dieser ewig schwankende Mann seinen Platz verlässt, den in dieser kritischen Stunde nur ein Zielbewusster, ein Starker ausfüllen kann. Mir ist es noch nicht klar, worüber Bethmann-Hollweg eigentlich gefallen ist. Haben ihn die alldeutschen Annexionisten gestürzt oder die Demokratie? Anscheinend beide. Und was bedeutet sein Nachfolger? Es ist schon etwas, dass er ein Bürgerlicher ist! Man denke, an der Stelle des Fürsten Bismarck sitzt heute ein einfacher Dr. Michaelis. Der Nachfolger des Fürsten Bismarck, des Grafen Caprivi, des Prinzen Hohenlohe, des Fürsten Bülow, ein schlichter Beamter. Dass Dr. Michaelis den Mut besitzt, die Wahrheit offen anzuerkennen, dass er kraftvoll auf dem einmal als richtig erkannten Weg fortzuschreiten vermag, hat er als Ernährungsdiktator erwiesen. Seine entschiedene Rede im preußischen Abgeordnetenhaus klingt noch in allen Ohren. Ein solcher Mann an der Spitze der Staatsgeschäfte ist gewiss ein großer Fortschritt. Aber ist das Alles? Wenn man glauben sollte, die Forderung nach Demokratisierung damit erfüllt, die Vorbedingungen zu einem Friedensschluss damit geschaffen zu haben, so fügt man der langen Reihe, der in und vor diesem Krieg begangenen Irrtümer einen weitern Irrtum hinzu. Mit Schönheitspflästerchen kann der Friede nicht gezimmert werden. Solange nicht die Gesamtheit des deutschen Volks die Grundlage der Regierung bildet, werden die heutigen Gegner Deutschlands die einzig wahren Garantien für einen ehrlichen Dauerfrieden und für die Errichtung einer Staatenorganisation nicht gegeben sehen, und das blutige Elend wird fortdauern. Vederemo!

Nicht klar sieht man über den Ursprung der Krise. Sicher ist, trotz aller Schönfärberei der Presse und der Militärs, die Ansicht endlich zum Durchbruch gekommen, dass es in diesem Krieg keinen Sieg für Deutschland mehr geben kann, dass die Weiterführung Verbrechen seil Aber die bange und fürchterliche Frage wirft sich auf: «Ist es jetzt nicht zu spät?» Hätte diese von uns schon längst gepredigte Wahrheit im Januar Anerkennung gefunden, hätte man das frevelhafte Spiel mit dem Unterseebootkrieg nicht getrieben, und damit nicht Amerika auf den Plan gelockt, das unseren Militärs so unerreichbar weit erschien, dass es ihnen keine Sorge machte, so wäre der Krieg im März unmittelbar nach Ausbruch der russischen Revolution zu Ende gekommen. Aber jetzt? Es wäre entsetzlich, wenn die ganze Tragik eines «zu spät» auf das neu aufhoffende deutsche Volk herabsausen würde. Und ich fürchte es im Grunde meines Herzens.