Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. Oktober.

Unerquickliche Diskussionen: Barzilai sagt in einer in Neapel gehaltenen Rede, dass Italien von Deutschland nichts gehabt hätte. Es sandte keine Kapitalien, nur Menschen. Darob protestiert Dernburg im «Berliner Tageblatt». Er allein hätte auf zwanzig Reisen nach Italien über 100 000 Mark dahin getragen. Fünf Jahre nach dem Krieg will er nicht mehr hingehen. «Wer hält mit?» — Der «Corriere de la sera»: «Fünf Jahre? Zu wenig. Ihr sollt überhaupt nicht mehr kommen.» — Ich weiss nicht, ob sich die Konversation fortgesponnen hat? Wahrscheinlich. Aber wozu soll das? Heute dienen solche Zwiegespräche nur dazu, die ohnehin hochgespannte Erregung zu steigern. In ruhigen Zeiten wird man sich ihrer schämen. Der Verkehr wird nach dem Kriege zwischen den heute kriegführenden Völkern so sicher wieder aufgenommen werden, wie der Verkehr der Erde um die Sonne durch das irdische Blutbad nicht gestört wird. Er gehört nicht zu den Allotrias der Menschheit, sondern zu ihren Lebensbedürfnissen, und wie die Geschichte lehrt, zu ihren ursprünglichsten und mächtigsten. Auch die Richtung unserer technischen Entwicklung beweist dies, da auf dem Gebiet der Verkehrstechnik die genialsten und raschesten Fortschritte erzielt wurden. Wenn die Menschheit wieder normal zu leben beginnen wird, werden Menschen und Güter von einem Land zum andern wandern, wie es, wenn auch nur auf Güter beschränkt und überhaupt nur im beschränkten Maße, sogar wärend des Kriegs zwischen den feindlichen Ländern niemals aufgehört hat; denn der Abbruch der Post- und Bahnverbindungen ist nur eine Fiktion. Über diese künstlichen Abgründe hinweg verkehren die Menschen doch miteinander. Und es ist mir gestern als besonders kennzeichnend aufgefallen, dass der auf allen Seiten von Hass strotzende «Matin» (vom 5. Oktober) auf der gelesensten Seite der «Dernière Heure» eine riesige Textreklame für Kneipp-Kaffee enthält. Allerdings dürften nicht viele Franzosen wissen, dass Pfarrer Kneipp ein bayrischer «Boche» war. Es wird sich nur darum handeln, in welchem Umfang der Verkehr der Menschen unmittelbar nach dem Krieg einsetzen wird. Hier wird man durch vereinte internationale Aufklärungsarbeit sich gegenseitig gute Dienste leisten können. Es ist klar, dass diejenigen Reisenden unter dem Hass am wenigsten leiden werden, die in der Lage sind, am komfortabelsten zu reisen. Wer mit Express- und Luxuszügen ankommen, in den grossen Hotels wohnen und nur in vornehmen Stadtvierteln sich bewegen wird, wird kaum Belästigungen erfahren. Unangenehm empfinden werden die Folgen des Kriegs wiederum nur die armen Teufel, die mit dem Pfennig rechnen müssen, die im fremden Lande Arbeit suchen und unter den breiten Schichten der Bevölkerung zu leben gezwungen sein werden. Es werden sich die sozialdenkenden Menschen aller Länder zusammenschliessen müssen, damit hier nicht die soziale Ungerechtigkeit triumphiere. Wir werden nach dem Krieg überall Ausländer-Schutzgesellschaften errichten, wie solche schon während des Kriegs in einigen Ländern bestehen und Gutes leisten. Ausländer-Schutzgesellschaften, die vor allen Dingen den üblen Einflüssen der Hetzpresse werden entgegenwirken müssen, und denen es obliegen wird, die Volksmassen dahin aufzuklären, dass jedes einem Ausländer zugefügte Unrecht auch einen Landsmann trifft, der fern von der Heimat zu leben gezwungen ist. Lasst erst den Krieg überwunden sein, die Vernunft wird uns dann schon helfen.