Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 22. Juni.

Viscount Grey ist in einer Broschüre für den Völkerbund gegen den Krieg eingetreten. Alles, was er darin sagt, ist für uns Pazifisten so klar, so vernünftig, so unzweifelhaft. Es ist der Gedanke der unsere Bewegung seit Jahrhunderten schon erfüllt, der uns in den letzten Jahrzehnten vor dem Krieg die Kraft für unsere Betätigung verliehen, in uns in den letzten Jahren vor dem Krieg die Hoffnung auf einen Sieg der Vernunft erstehen lies. «Lern, oder stirb!» ruft Grey den Völkern zu.

«Die ganze moderne Kultur steht auf dem Spiel. Die Frage, ob sie untergehen wird wie andere, frühere Kulturen oder ob sie weiter blühen und gedeihen wird, hängt von der Frage ab, ob die in dem Krieg verwickelten Nationen, oder nur die, die bloß Zuschauer sind, die Lehren aus den Erfahrungen dieses Kriegs ziehen werden.»

Grey legt diesem Krieg den wahren Sinn unter, der sich wohl unterscheidet, von den zahlreichen, zum Teil wie wahnsinnig anmutenden Unterlegungen von deutscher Seite. Es kann sich nur darum handeln, das System der Gewalt und die es tragenden Einrichtungen zu überwinden oder zugrunde zu gehen. Es kann in dieser engen Welt der miteinander verwachsenen, gegenseitigen Abhängigkeiten kein Vorherrschen, kein Alleinsein, keine unbegrenzten Unabhängigkeiten mehr geben. Ebenso wenig wie ein vernünftiges Leben in Stadt und Staat möglich wäre ohne Ordnung, ohne Gesetz, ebenso wenig ist dies heute mehr in der Well möglich, die durch die Herrschaft der Maschine enger geworden ist als ehedem mittlere oder kleine Staaten waren. Dies gilt es, zu erkennen. Es gilt eben, zu lernen oder an der Unfähigkeit dazu zu sterben. Grey erklärt, das eine Völkerliga auch Deutschland umfassen müsse, aber ein von dem Vorteil und der Notwendigkeit einer solchen Liga völlig überzeugtes Deutschland. «Die Überzeugung müsste aus dem deutschen Volk selbst kommen, die Alliierten kennen selbst durch einen vollen Sieg über Deutschland die Welt nicht retten.» Hierin liegt eine große und wichtige Wahrheit. Es muss endlich klar werden, dass, sowie der Krieg nicht durch militärische Mittel entschieden werden kann, die Idee, die ihm zu Grunde liegt, nicht durch militärischen Sieg zum Durchbruch gelangen kann. Die Erleuchtung der Weltnotwendigkeit einer aut Recht basierten Ordnung wird dem deutschen Volk erst durch die Demokratie kommen. Die Demokratie, die während des Kriegs im deutschen Volk gezündet hat kann erst zum Durchbruch kommen nach dem Krieg, nach der Zurüdeziehung der militärischen Gewalt aus dem öffentlichen Leben, nachdem erst die Wirkung des Kriegs sich geltend machen wird. Erst bis der durch den Krieg künstlich erhaltene Fieberrausch des geistigen, des wirtschaftlichen, des sozialen Lebens vorübergegangen sein wird, bis das Volk erst klar erkennen wird können, was der Krieg war, was er an Elend, an Lasten, an Verschlechterung eingebracht hat, dann wird in Deutschland die Demokratie siegen und mit ihm die Eingliederungsfähigkeit des deutschen Volks in ein Weltsystem. Warum daher warten, warum warten bis alles zu Grunde gegangen und nicht lieber alle Kräfte darauf verwenden, dass es zu einem Kompromissfrieden komme, auf den das deutsche Volk schließlich eingehen würde, trotz seinen Siegfriedlern und alldeutschen Weltmachtfressern, sobald von Seiten der Entente die Bereitwilligkeit immer wieder klar vorgebracht würde.

Es ist so furchtbar traurig, dass diese vernünftigen Ideen von der Unmöglichkeit einer Weiterführung des Kriegszeitalters, von der Notwendigkeit einer Überwindung des Gewaltsystems und der Errichtung einer Staatengesellschaft in so eindrucksvoll glaubhafter Weise immer wieder nur von der Ententeseite vorgebracht wird, während man in Deutschland wohl manchmal von einer durch die moralische Macht des Rechts regulierten Welt redet, aber dauernd eine durch die zur Unmoral gewordene Gewalt errichtete Neuordnung der Welt weiter schafft. Sieht man denn nicht ein, dass man für den Rausch einer kurzen Zeit, das Deutschtum damit nach absehbarem Verlauf einiger Jahre zu Tode treibt. Der Satz Muehlons sollte in das Herz jedes wahrhaft patriotischen Deutschen geprägt werden «Es gibt ein moralisches Element in der Entwicklung, das wird uns besiegen, je mehr wir es verletzen.» Hören wir doch auf, es zu verleben.