Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 23. Juli.

Die Reihe der historischen Daten beginnt wieder. Der durch die Jahrhunderte verfluchte Tag des Unheils jährt sich zum zweitenmal. Das österreichisch-ungarische Ultimatum von damals ist noch immer nicht befriedigend beantwortet, trotzdem sich die ursprüngliche Frist von zwei Tagen auf siebenhundertunddreissig Tage verlängert hat.

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An dem Tage, an dem die Schlacht bei Verdun begann, wurde auf der Nachbarwiese neben meiner Wohnung ein Grundriss abgesteckt. Ein Haus wurde errichtet. Gestern wurde das Gerüst abgetragen. In der gleichen Zeit, in der vor Verdun Tod und Vernichtung gesät wurden, hat man hier nützliche Arbeit geleistet. Dieses eine Haus bedeutet für die Menschheit mehr als die Monsterschlacht an der Maas. Man hat errichtet und geschaffen. — Und die Schlacht von Verdun geht weiter. In den sechsten Monat hinein. Welches Ergebnis, das sie zu zeitigen vermag, lässt sich noch rechtfertigen durch diese Unsumme von Leid, das sich dort zwei Völker täglich zufügen?

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Die «Kreuzzeitung» stellt sich die politische Neuorientierung nach dem Krieg (nach «Berliner Tagblatt» 21. Juli) sehr einfach aber wenig verlockend vor. Über das von ihr erstrebte Ziel schreibt sie:

«Darum besteht vor allem die nötige ,Neuorientierung’ darin, dass unser Volk sich wieder zum religiösen Glauben zurückwendet, dass wir wieder, wie in den Tagen der Befreiungskriege, ein gottesfürchtiges, frommes Volk werden».

Jawohl! Eine Geistesverfassung also, die es gestattet, das deutsche Volk nach diesem Massaker ebenso an der Nase herum zu führen, sich ihm gegenüber ebenso aller Versprechungen ledig zu halten, wie nach den Befreiungskriegen. Die «Kreuzzeitung» stellt sich also die Jahre nach der «grossen Zeit» als eine Periode der Reaktion, der Verfolgung (statt der Demagogen, der Pazifisten) vor. Dazu braucht sie ein «gottesfürchtiges, frommes Volk», dazu will sie den religiösen Glauben missbrauchen. Es wird anders kommen! Es muss anders kommen. Das Volk, das den Jammer dieses Krieges über sich ergehen liess, wird sich nicht noch einmal von den Rittern und Heiligen dupieren lassen.

Das scheint man auch in jenen Kreisen zu fühlen. Der Kampf, der sich jetzt um die Kriegsziele und gegen den Reichskanzler entwickelt, ist der Verzweiflungskampf der Kriegsutopisten, die ihre Stellung bedroht fühlen. Nicht um die Sicherung Deutschlands handelt es sich ihnen, sondern um die Sicherung der eigenen Position, die verloren wäre, wenn der von ihnen hervorgerufene Krieg ohne greifbares Ergebnis beendigt werden müsste.

Es ist der Kampf einer Partei, die die Rechenschaft fürchtet, der sie sich wird unterziehen müssen, und die jetzt unter dem Deckmantel patriotischer Phrasen, die wirklichen Vaterlandsfreunde hindern will, vernünftig zu handeln. — Jede Annexion wäre ein Hemmnis für die friedliche Entwicklung Deutschlands, und sie bezeichnen gerade das Länder- und Völkerangliedern durch Gewalt als eine Sicherheit für Deutschland. Ein ärgerer Betrugsversuch ist am deutschen Volk noch nie unternommen worden.