Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 16. Dezember.

Man stelle sich vor: Ein rabiater Lokomotivführer, der mit seinem Expresszug einen Rekord schlagen will, deshalb mit rasender Geschwindigkeit fährt, keiner Vorschrift, keinem Signal Beachtung schenkt. Heizer, Zugsführer, Fahrpersonal haben ihre Freude an dem Sport und treiben den Lokomotivführer an, die Schnelligkeit immer noch zu erhöhen. Die Passagiere schlafen, lesen, essen, rauchen, spielen Karten. Sie freuen sich wohl der schnellen Fahrt, haben aber keine Kenntnis von der Gefahr und der verbrecherischen Gewissenlosigkeit des Fahrpersonals. Da geschieht das Unglück. Der verbrecherisch geführte Zug fährt in einen andern hinein. Da liegen nun die Toten. Die anderen sind verstümmelt, mit den Nerven zusammengebrochen, ihrer Habe verlustig.

Nun stelle man sich weiter vor: die überlebenden Passagiere des angefahrenen Zugs wollen die Bestrafung der unglücklichen Opfer des von Gewissenlosen geführten Unheilzugs. Nicht bloß die Bestrafung des Lokomotivführers, der Zugführer, sondern auch die Bestrafung der armen, elenden Krüppel, die während der rasenden Fahrt geschlafen, gelesen, gegessen, geraucht, Karten gespielt haben.

So liegt der Fall zwischen der Entente und dem deutschen Volk.

Meine Herren Lloyd George und Clemenceau! Wir sind nicht die Verbrecher, wir sind Verunglückte; Verunglückte wie ihr!

Ich kenne die Einwände! Das Volk hat den Krieg gebilligt, ihn mitgemacht, hätte im Fall des Siegs seine Vorteile genossen. Das alles trifft für die Reisenden auch zu. Doch war sich das Volk wie die Reisenden der Tragweite des von den Führern unternommenen Wagnisses nicht bewusst. Nur einige hatten das Bewusstsein, diese hatten aber nicht die Macht, die Führer zu vernünftiger Fahrt zu veranlassen.

Ist es nicht Wahnsinn, die bei einem Eisenbahnunglück zertrümmerten Krüppel dafür bestrafen zu wollen, dass sie das Unglück über sich ergehen ließen?