Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 22. Dezember.

Die Reichstagssitzung vom 20. Dezember 1915 dürfte für die Entwicklung des Pazifismus von nicht geringer Bedeutung werden. In jener Sitzung wurde für die leider noch recht grosse Masse derjenigen, die noch keinen tiefem Einblick in das Wesen der Dinge gewonnen haben, die Illusion von der Wohlstandsförderung der Kriege gründlich zerstört. Zu Beginn des Kriegs konnte man so ziemlich allgemein die Hindeutungen auf den künftigen Milliardensegen vernehmen, der nach dem Krieg Deutschland beglücken werde. Einige gingen in ihrer Zuversicht sogar so weit, die moralischen Nachteile dieses Goldregens zu bedauern. Und nun kommt der Staatssekretär der Finanzen und sagt uns: «Der Krieg wird unter allen Umständen, einerlei wie gross die Kriegsentschädigung ist, mit der wir natürlich rechnen, für uns kolossale steuerliche Lasten nach sich ziehen. Darum kommen wir nicht herum, darauf ist auch jeder bei uns gefasst». Er deutete noch «andere Steuervorlagen» an, «die zur Zeit noch bearbeitet werden». «Der deutsche Patriotismus muss dann das Geld hergeben, nicht nur gegen fünf Prozent, sondern in Form von Steuern, die keine Zinsen bringen». Das ist die Zukunft! Und der Abgeordnete Gothein entwickelte die Perspektive in folgenden Worten noch weiter:

«Das deutsche Volk wird nach dem Krieg eine Steuerlast zu tragen haben, wie sie bisher die ärgsten Pessimisten nicht für möglich gehalten haben. Es wird ganz unmöglich sein, diese Lasten durch indirekte Steuern und Monopole zu decken. Einkommen und Vermögen werden in weitestem Maße direkt steuerlich erfasst werden müssen. Die Steuersätze werden ganz anders sein, als wir sie bisher gewöhnt waren. Wir werden uns darauf gefasst machen müssen, dass, während wir jetzt vielleicht zwei Monate im Jahr für die Allgemeinheit arbeiten, wir in Zukunft vier oder fünf Monate für Reich, Staat und Gemeinden arbeiten müssen. Die gesamte Besteuerung wird bei den höchsten Einkommen nach dem Kriege auf 30 bis 40 Prozent steigen. Wir werden unsere Lebenshaltung herabschrauben müssen, und zwar in allen Kreisen, denn es wird auch eine Ehrensache für die Reichen sein, den Luxus einzuschränken, namentlich den Luxus in der Ernährung und vielfach auch in der Wohnung. Gewaltige Aufgaben stehen uns bevor. Nur durch intensive Arbeit und ehrliche Hingabe, die im Frieden nicht zurückstehen dürfen hinter der Arbeit und der Hingabe im Kriege, wird das deutsche Volk die schwere Zeit nach dem Krieg überwinden können. Es kommt vielleicht wieder eine Zeit, wo wir uns grosshungern müssen. Wir hoffen, dass dieser Krieg schliesslich letzten Endes sich nicht als ein Niedergang für lange Jahrzehnte erweisen, sondern dass das deutsche Volk nach dem Kriege die Kraft haben wird, durchzuhalten bis zu einer wirtschaftschaftlichen und kulturellen Höhe, auf die wir alle hoffen».

Also doch ein Niedergang! Also wieder «hinaufhungern», also die Hälfte der Arbeit der künftigen Generationen für die Bezahlung dieses Krieges, also Einschränkung der Lebenshaltung! Also 30 bis 40 Prozent des Einkommens abgeben! Und dies alles sogar unter dem Gesichtswinkel des Siegers! Wie wäre die Zukunft erst im Fall einer Niederlage? — Weiss man auch was das heisst: vermindertes Einkommen, vermindertes Vermögen, verminderte Lebenshaltung, schlechtere Wohnung? — Das heisst: niedergehaltene Initiative, geringerer Handel, weniger Wohlstand, verminderte soziale Fürsorge, mehr Krankheit, weniger Heilaussicht, grössere Sterblichkeit, geringere Volksbildung, schlechteres Recht, kurz — Elend! Elend! Elend! —

Und keiner hat angesichts dieser Zukunftsaussichten die grosse Frage gestellt: Warum das alles? Keiner! — Keiner hat es gewagt, zu erklären, dass ein System, das der Menschheit solche Notwendigkeiten auferlegt, ein wahnsinniges sei, mit dem gebrochen werden muss. Keiner hat das Wort in die Debatte geworfen, dass dieser Krieg, der selbst dem siegreichen Volk solche Zukunft bereitet, hätte vermieden werden müssen. Dass der Patriotismus, an den man jetzt zur Steuerzahlung und Vermögensabgabe appelliert, auch in vollem Umfang hätte angerufen werden müssen, als man aus Rücksicht auf das «Prestige» die schiedliche Lösung des österreichisch-serbischen Konflikts ablehnte. Diese traurige Perspektive einer Beschränkung des Volkswohlstandes ist nur erträglich in dem Glauben an die Naturgesetzmässigkeit der Kriege und an die Unvermeidbarkeit dieses Krieges. Da der Krieg kein Naturgesetz ist, sondern Menschenmache, und da dieser Krieg hätte vermieden werden können, so ist diese Zukunftsaussicht unerträglich.

Es ist ein trauriger Sieg, den an jenem Tage der Pazifismus durch die Propaganda der Tat errungen hat. Traurig, weil ein Eingehen auf seine vom reinsten Patriotismus eingegebenen Forderungen der Menschheit dieses Erlebnis erspart hätte!

Wie oft hat man uns in Schriften und in Versammlungen, wenn wir den Krieg als Wohlstandsvernichter auch für den Sieger dargestellt haben, höhnisch darauf hingewiesen, dass der Wohlstand und der Aufschwung Deutschlands das Ergebnis des Krieges von 1870/71 war. Vergeblich war unser Einwand, dass die Ursache jenes Wohstandes nicht jener Krieg, sondern in erster Linie die Einigung der deutschen Stämme, die Ausschaltung des Krieges zwischen ihnen gewesen ist, und dass die Zeit von 1870/71 in bezug auf die Verquickung und Interdependenz der Wirtschaft aller Völker mit unserer Gegenwart nicht mehr zu vergleichen sei. Der Krieg könnte, so wiesen wir nach, niemals wieder Mehrer des Reichstums werden, da sich die Verhältnisse grundlegend verändert haben. Es war vergebens. Die blinde Masse glaubte an die Reichtums- und Wohlstandsförderung durch den Krieg. Die Worte des Staatssekretärs Helfferich und des Abgeordneten Gothein vom 20. Dezember sind die Rechtfertigung für uns.

Wie hat man Bloch ausgelacht! Wie hat man Norman Angell bekämpft! Dämmert schon die Einsicht der «grossen Täuschung»? Die Gelehrten der Kriegswirtschaft und der Kriegsfinanzpolitik lachten darüber. Und man glaubte ihnen. Man glaubt ihnen noch jetzt. Staatssekretär Helfferich berief sich in einer Rede vom 20. Dezember auf sie, als er davon sprach, dass die neuen englischen Steuern gerade nur ausreichen, um die Verzinsung der Kriegsanleihe zu decken. «Dass dies so kommen würde bei dem gigantischen Ringen, das Europa durchgemacht hat, ist bei uns von den Leuten, die den Krieg finanziell vorzubeiten hatten, stets vorausgesehen worden». Im übrigen haben sich diese Propheten der Kriegsfinanz doch in allem getäuscht. Geheimrat Rieser, doch der angesehendste Kriegsfinanzmann, hat in seiner im Jahre 1909 erschienenen Schrift «Finanzielle Kriegsbereitschaft und Kriegführung» die Kosten eines Krieges für Deutschland mit 500 Millionen monatlich und 6 Millarden jährlich bemessen. Wir wissen heute, dass das Vierfache dieser Zahl richtig ist. Das Vorhersehen war nicht gerade die starke Seite jener Männer, und ihre Bekämpfung der pazifistischen Betrachtungen der Folgen eines Krieges erweist sich heute schon als irrig.