Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

28. September 1914.

Gestern Brief von Miyaoka (Tokio) vom 17. August. Muss durch ein Versehen bestellt worden sein. Berichtet über das japanische Ultimatum in etwas naiver Weise. Zuerst Hinweis auf den unter Deutschlands Führung durch dieses Land im Verein mit Russland und Frankreich am 23. April 1895 an Japan erteilten «freundschaftlichen Rat», die ihm im Friedensvertrag von Shimonoseki abgetretene Halbinsel Liaotang «im Interesse des dauernden Friedens im fernen Osten» an China wieder zurückzustellen. Diesem Ratschlag unterwarf sich Japan. Nun kommt das Naive: «Wenn Deutschland in dieser Lage (nach Überreichung des Ultimatums) ebenso handeln wird, wie es Japan 1895 tat, wird der Friede in diesem Teil der Erde nicht gestört werden. Ich fürchte jedoch, dass wir jetzt am Rande des Krieges mit Deutschland stehen.»

Diese Befürchtung war nicht unangebracht. Es ist jedoch interessant zu sehen, wie aus jenen Zeilen das Motiv der Vergeltung hervorleuchtet.

In einem beachtenswerten Artikel in der gestrigen «Neuen Freien Presse» aus der Feder ihres früheren Pariser Korrespondenten, Bertho1d Frischauer, wird wieder der Präventivcharakter des gegenwärtigen Kriegs hervorgehoben.

Danach wäre es Delcassé’s Aufgabe in Petersburg gewesen, die Verhandlungen über den Bau der strategischen Bahnen Russlands zu führen, für den das französische Kapital zweieinhalb Milliarden Frcs. in fünf Jahresraten liefern sollte. Die erste Jahresrate dieses Anlehens ist im Januar dieses Jahres mit 330 Millionen bezahlt worden. Dann heisst es wörtlich: «Konnte Deutschland, konnte Österreich länger warten. . . In zwei Jahren hätte die dreijährige Dienstpflicht in Frankreich ihre volle Wirkung gezeigt. In drei oder vier Jahren wären die russischen Mobilisierungsbahnen fertig gewesen, da die bereits bewilligten Bahnen eine Beschleunigung der Arbeiten gestattet hätten. In drei Jahren wäre auch die eben erst in Beginn stehende belgische Armeeorganisation zur völligen Reife gediehen, und Belgien wäre zu einem grösseren Widerstande oder gar zu einem Angriff gegen Deutschland fähig gemacht worden. Deutschland und Österreich konnten und durften nicht warten». Das heisst also, dass Deutschland und Österreich einen Präventivkrieg führen. Nach Rohrbach (siehe oben unter 5. Sept.) Pachnicke (siehe oben unter 12. Sept.), dem «Vortrupp» (siehe oben unter 16. Sept.), nunmehr auch Berthold Frischauer in der «N. Fr. Pr.». Wie schlecht passen diese Ausführungen zu den steten Versicherungen der deutschen und österreichisch-ungarischen Regierungen, dass sie die schmählich Angegriffenen seien.

Wenn aber das von Rohrbach, Pachnicke, Frischauer und anderen angeführte Motiv den Tatsachen entspräche, wie töricht wäre es doch!

Als ob sich in diesen drei bis vier Jahren nur die Lage der Gegner geändert hätte und nicht auch die Deutschlands und Österreich-Ungarns. Als ob nicht das ganze System des Wettrüstens lediglich darin bestanden hat, die Lageverbesserung und Stärkung des Gegners durch die eigenen Massnahmen und Verstärkungen unschädlich zu machen und zu überbieten. Freilich einen bessern Beweis, dass die Rüstungen nicht den Frieden sichern, wie man immer behauptet hat, sondern ihn nur gefährden, konnte man nicht erbringen als durch die Rechtfertigung dieses Krieges als Vorbeugungsmassnahme gegen die Rüstungen der Gegner, die ja wiederum nur durch unsere eigenen Rüstungen bedingt waren. Aber hätten nicht andere Umstände eintreten können, die diesen Krieg in drei oder vier Jahren ausgeschlossen hätten erscheinen lassen. So eine Revolution in Russland oder eine Stärkung der im besten Gang befindlich gewesenen Verständigungsbewegung zwischen Deutschland und den Staaten des Westens. Vielleicht hätte auch eine Umwälzung in Ostasien Russlands Pläne zerstört. Jeder Krieg ist ein Unglück, aber der Präventivkrieg ist das grösste Verbrechen.

Dass der Krieg ein Unglück ist, wird wohl kaum mehr von jemandem bestritten werden, am wenigsten von den jetzt im Krieg befindlichen Regierungen selbst, die, nur aus dieser Erkenntnis heraus, die Verantwortung von sich auf die Gegner abzuwälzen trachten und einstimmig erklären, dass sie den Krieg nicht gewollt haben, er ihnen nur aufgezwungen wurde. Die Geschichte wird diesen Widerspruch klären.

Dieses Beschuldigen der Andern, den Krieg angefangen zu haben, lässt neuerdings erkennen, wie gut man getan hätte, die Friedensbewegung, statt zu bekämpfen und der Lächerlichkeit preiszugeben, mit allem Nachdruck zu unterstützen. Denn die Friedensbewegung ist international und ihre Stärkung im eigenen Lande hätte ihr Ansehen und ihren Einfluss auch im Lande der voraussichtlichen Gegner gestärkt. So wären durch Massnahmen der innern Politik Kräfte erzeugt worden, die die gefährlichen Massnahmen in anderen Ländern zu hemmen imstande gewesen wären. Wenn man in Deutschland der Friedensbewegung jenen Platz eingeräumt hätte, wie man ihn den Chauvinisten, den Alldeutschen, den Präventivkriegs-Predigern, den Wehrvereins- und Flottenvereins-Generalen eingeräumt hat, so hätte man nicht, wie dies von den Gegnern fälschlich behauptet wurde, die Wehrkraft des Reiches geschwächt, sondern der Parallelströmung in den anderen Ländern erhöhten Einfluss verschafft. Man hätte damit die Deutschfeindlichkeit, das Neidertum, die Kriegsparteien der Andern lahmgelegt und würde es jetzt nicht nötig haben, die Blüte der Nation zu opfern. Die Friedensbewegung hätte dem Krieg wirksam vorgebeugt, hätte den Präventivkrieg überflüssig gemacht. Es wird sich jetzt zeigen, in welch hohem Sinne die Friedensbewegung patriotisch ist, und wie notwendig es gewesen wäre, neben dem Krieg auch den Frieden zu rüsten.