Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. April.

Die sozialdemokratischen Reden im Reichstag entwickeln ein grauenhaftes Bild der Zustände in Deutschland. Ein Lichtkegel wurde durch sie auf die Tätigkeit der Gerichte geworfen, die jede Verfehlung wider den heiligen Geist des Militarismus, jede Auflehnung gegen die schwer erträglichen wirtschaftlichen Zustände mit grösster Härte ahnden.

Zwei Fälle, die diesen Geist am eindringlichsten beleuchten, der gegenwärtig in Deutschland herrscht, seien hier festgehalten:

Erstens die Ausführung des Abg. Stadthagen.

«Es handelt sich um einen 45jährigen Mann, der im November 1914 freiwillig eintrat und dessen Sohn ebenfalls freiwillig dient. Dieser Mann, den ich persönlich nicht kenne, gehört offenbar nicht zu jenen Leuten, die das Wort Patriotismus nur im Munde führen, vor der Ausübung der Militärpflicht sich aber durch Reklamationen drücken. Dieser Mann war choleraverdächtig in Saarburg ins Lazarett geliefert worden. Dort neckte den noch Fieberkranken ein Gefreiter. Der Mann verbat sich das und prügelte schliesslich den Gefreiten zur Tür hinaus. Der Gefreite tat die Dienste des Unteroffiziers vom Dienst. Darauf wurde der Mann wegen Achtungsverletzung und tätlichen Angriffs gegen einen Vorgesetzten zu der horrenden Strafe von zehn Jahren, drei Monaten Gefängnis verurteilt. (Lebh. Hört! Hört! b. d. Soz. Arbg. u. d. Soz.) Nun wird dem Mann gesagt, er soll wieder ins Feld, er soll die zehn Jahre erst verbüssen, wenn der Krieg zu Ende ist».

Also ganz abgesehen von der Härte dieses Urteils, stelle man sich doch die Lage vor, in die hier ein Mensch erbarmungslos hineingezwängt wird. Er soll sein Leben einsetzen, für Deutschlands Sieg kämpfen mit der Aussicht, den Rest seines eigenen Lebens, wenn er es noch hinüberrettet — eventuell auch als Krüppel — in einem preussischen Gefängnis verbringen zu dürfen. Der Fall ist haarsträubend.

Nicht minder haarsträubend die Ausführungen des Abg. Landsberg über den Fall der Rosa Luxemburg. Diese wurde zur Abbüssung ihrer einjährigen Gefängnisstrafe, für die ihr Strafaufschub erteilt war, eines Tages plötzlich mit dem Polizeiwagen zur Verbüssung der Strafe von ihrer Wohnung abgeholt. Eine Beschwerde darüber wurde vom Berliner Polizeipräsidenten mit der Antwort abgetan: «es hätten sich ausser Frau Rosa Luxemburg in dem Wagen nur noch sechs Frauenspersonen befunden, die wegen Sittenpolizei ins Gefängnis geschafft werden sollten». Welche Niedertracht! Und dies in der Zeit des Millionenmordes, wo es angeblich keine Parteien mehr gibt. Das deutsche Volk weiss wofür es kämpft.