Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 9. November.

Wilhelm II. ist nicht mehr Kaiser!

Heute nachmittag künden Maueranschläge die große geschichtliche Botschaft, dass sich der Kaiser und König wie sein Sohn, der Kronprinz, «entschlossen» haben, auf den Thron zu verzichten. La commedia e finita!

Der Hauptschuldige des Kriegs, er, der es in der Hand hatte, den Krieg zu vermeiden, er, der leichtfertig und gewissenlos in der kritischen Stunde den Dingen seinen Lauf ließ, auf dessen Schultern die Verantwortung für den Tod so vieler Hoffnungen liegt, mit dessen Namen das Verbrechen dieses Kriegs für immer verbunden sein wird, hat die Macht verloren und sinkt ins Nichts zurück. Die Weltgeschichte wiederholt die Napoleontragik. Wiederum ist ein Weltstörer, ein Kriegsfanatiker, ein Soldatenkaiser, dem die Welt sich eine Zeit lang unterwerfen musste, der Schrecken und Verwirrung über die Menschheit gebracht, der Nemesis der Geschichte erlegen. Der Glanz, mit dem Wilhelm 11. seinen Thron umgeben hatte, ist erloschen, die Machtstellung, die er Jahrzehnte im Reich und in der Welt ausgeübt hat, ist zerbrochen. Die mittelalterliche Romantik, von der er selbst erfüllt war, und die er dem Volk auf allen Gebieten aufzudrängen vermochte, tritt in ihrer ganzen Verschlissenheit zutage. Die Sozialdemokraten, die er verfolgt und geknechtet hat, die er wegen Beleidigung seiner Majestät in die Gefängnisse, in die Zuchthäuser sperren ließ, von denen er in den Jahren seines Übermuts sagte, «die Sozialdemokraten überlassen sie mir», sie haben jetzt über ihn triumphiert, denn lebten Endes hat die sozialdemokratische Partei mit ihrem Ultimatum von vorgestern, den Zögernden, den mit der neuen Richtung sich abfinden Wollenden, zum Rücktritt gezwungen. Die dreißig Jahre eines bornierten Irrtums, als welcher sich die Regierungszeit Wilhelms II. gibt, eines Irrtums, der zu jenem Blutbad geführt hat, zu jener Vernichtung deutscher Größe, sie sind überwunden. Das deutsche Volk, die Menschheit, sie werden an dieses Menschenalter kaiserlicher Herrschaft denken. Sie ist teuer genug bezahlt worden. Aber mit dem Rücktritt dieses selbstherrlichsten aller Staatsoberhäupter ist der Anachronismus des Hohenzollerntums, der deutschen Miliiärautokratie, des preußischen Militarismus zusammengestürzt, zerbrochen, überwunden für immer. Der Mann, der seine Zeit verkannt hat, der Verächter der Haager Konferenzen, die er nicht verstanden, nicht gewürdigt hat, ist dem Friedensstreben der Menschheit zum Opfer gefallen.

Im Juni 1905 habe ich eine Broschüre verfasst, die den Titel führt: «Kaiser werde modern!» Ich habe die Rückständigkeit der kaiserlichen Handlungen darin dargelegt und den Ruin für Kaiser und Reich vorausgesagt, der sich ergeben müsse, wenn die Politik weiter kriegerisch orientiert wird, statt eine positive Friedenspolitik einzuschlagen. Ich regte an, dass Wilhelm II. sich zum «Pacifer» machen solle. Eine Rede, die er im März 1905 in Bremen gehalten, gab mir den Mut zu einigen Hoffnungen. Diese Rede bildet einen Lichtblick in Wilhelms Leben. Vielleicht hat er damals angefangen, seine Zeit zu begreifen, aber der militärische Geist saß zu tief in ihm, vor allem in seiner Umgebung.

Wilhelm II. hat aufgehört, Kaiser und König zu sein. Mit ihm verschwindet sein unsympathischer Sohn, der Schlächter von Verdun, von der Bühne der Geschehnisse. Der Krieg hat seine Urheber, seine begeistertsten Mitmacher verbrannt. Er hat für immer dem System der Autokratie, der Säbelherrschaft, des Säbelgeistes ein Ende bereitet. Es ist ein glücklicher Tag der Menschheit, an dem dies Ereignis wurde. Und freudigen Herzens müssten wir den Demokratien des Westens dafür danken. dass sie gesiegt haben! Sie haben auch uns befreit. Hören wir auf, von «Feinden» zu reden. Ihr Sieg, ihre Ausdauer unter den furchtbaren Leiden, die der Wilhelminismus ihnen zugefügt hat, bringt uns Wohltaten.

Wilhelm II. hat «sich entschlossen», wie es in der Ankündigung heißt auf den Thron zu verzichten. Ebenso sein Sohn. Großmut ist es nicht, sonst wären beide schon vor Wochen abgetreten. Es wäre eine große Geste gewesen. Heute weichen sie dem Druck, den das Volk ausgeübt hat. Sie trennen sich schwer von der Macht. Aber trotz all der Schwere, die das Schicksal über die beiden Weltverderber verhängt hat, kann es mit diesem Rücktritt doch nicht getan sein. Die Welt in Brand stecken und sich dann einfach ins Privatleben zurückziehen, ist doch keine Sühne. Wer diese Leichenberge und Elendsjahrzehnte geschaffen, wer diese lachende, glückliche Welt so tief unglücklich gemacht hat, der soll auch zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Diesem Schicksal werden die beiden Wilhelme wohl auch nicht entgehen.

Dieses Tagebuch hat in der Ereignisflucht den letzten Wochen seinen Charakter verändert. Es war ein Buch der Kritik gegen den Krieg und seine Urheber, ein Schauplatz des Kampfes gegen die deutschen Welteroberungsabsichten, gegen die Gewaltanbeter, die Kriegsverlängerer. Es mahnte zur Einkehr und Umkehr, es sollte in der Ekstase des Siegs eine Mahnung zur Vernunft werden. Nun ist es eine Chronik geworden, die den Ereignissen kaum zu folgen weiß, in die mit stiller Resignation all jenes Unheil verzeichnet wird, dessen Kommen in den vergangenen vier Jahren hier geweissagt wurde. Es ist der Ablauf der Katastrophe, der nun folgt. Und nun bleibt nichts übrig, als ihn zu registrieren. Kritik zu üben liegt kaum mehr Anlass vor, denn was wir jetzt erleben, ist nur Reflex, nur Auslösung. Es bliebe mir noch übrig, zu triumphieren. Dazu habe ich aber keine Neigung. Es ist zwar ein erhebendes Gefühl, recht gehabt zu haben, es befreit von dem Druck des Vorwurfs, aber es wäre ein trauriger Beruf, in diesen Stunden der Trauer und der Verzweiflung feiertäglich sich damit zu brüsten. So mögen denn, solange dieses Buch noch mit Recht sich «Kriegstagebuch» nennt, die Vorgänge hier festgehalten bleiben und das rollende Bild des Weltkriegs vollenden.

Durch Deutschland rast die Revolution. In Mamburg, Kiel, Bremen, Lübeck, Wilhelmshaven herrschen die Arbeiter- und Soldatenräte, meutern Matrosen und Soldaten, werden den Offizieren Bedingungen vorgeschrieben, denen diese sich beugen. Mit roten Fahnen zieht das Militär durch die Straßen, rote Fahnen an den Masten der Kriegsflotte und auf den Schiften des Hamburger Hafens. Genau wie wir es von Russland hörten, wie wir es in Deutschland nie für möglich gehalten haben, ereignet es sich jetzt in dem Lande der strammen militärischen Ordnung, des Autoritätsglaubens und der Obrigkeitsverehrung. Es ist Revolution. Nur ist noch zu hoffen, dass sie nicht zu den Wahnsinnstaten der Bolschewik ausarten wird, dass in Besonnenheit die neue Ordnung der Dinge durchgeführt werde. Kurt Eisner, der vor einigen Tagen aus dem Gefängnis befreit wurde, hat gestern in München die Republik errichtet, das Königshaus der Wittelsbacher abgesetzt und anscheinend von der Macht Besitz ergriffen, denn der Münchner Polizeipräsident erklärt, sich den Anordnungen des neuen Staatsrats fügen zu wollen. Möglich ist, das dieses Beispiel auf ganz Deutschland überspringt, dass heute, nach der Abdankung des Kaisers, bereits in Berlin die Republik erklärt werden wird. Ich glaube, es muss dazu kommen, dass Deutschland jetzt Republik wird, jetzt oder nie. Nur die Republik, die ehrliche Loslösung von all den Menschen, die Träger des Kriegssystems gewesen, vermag das deutsche Volk zu retten, ihm die Tür für die neue Völkergesellschaft zu öffnen. Wenn das Volk jetzt zeigt, dass es selbst die Kriegsmacher, die Weltfresser, die Greueltatenverüber bekämpft und nichts gemein mit ihnen haben will, so verengert sich die Kluft, die Deutschland heute von der übrigen Welt trennt. Sie muss kommen, die deutsche Republik, der Traum der Großväter vor gerade 70 Jahren. Sie muss dem toten Militärstaat folgen, die neue Zeit von der alten trennen, und es wird wieder zu leben sein in Deutschland, in Österreich, in der Welt.

Von den Waffenstillstandsverhandlungen habe ich hier noch nicht gesprochen, die am 7. in Haudroy, irgendwo im Norden Frankreichs, begonnen haben. Die deutsche Delegation führt Erzberger. Sie empfingen vom französischen Generalstab die Bedingungen mit der Aufforderung, binnen 72 Stunden sie anzunehmen oder abzulehnen. In eine vorläufige Waffenruhe willigte der französische Generalissimus nicht ein. Am Tag vorher wurde Sedan wieder erobert. Die Kontinuität des jetzigen Weltkriegs mit dem Ereignis von Sedan vor 48 Jahren ist damit veranschaulicht worden.

Die Frankfurter Zeitung (7. November) schreibt:

«Ein schwerer Gang! Ein unsäglich trauriges Ende. Es ist gekommen, wie es der Feind gewollt hat. Die deutschen Generäle die . . . ihren Namen unter das Schriftstück sehen werden, wodurch dem schreckensvollen Morden Einhalt geboten wird, werden mit ihrer Unterschrift zugleich das tragische Ende eines Abschnittes deutscher Geschichte, das Ende des deutschen militärischen Zeitalters, beglaubigen.»

So ist es. Wellenwende!