Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 30. Juni.

Deutsche Reichstagsabgeordnete werden in Sofia gefeiert. Wenn ich mir die parlamentarischen Gesellschaftsreisen ansehe, die von Türken und Bulgaren nach Wien und Berlin, von Deutschen und Österreichern nach Konstantinopel und Sofia unternommen wurden, wenn ich die dabei gehaltenen Verbrüderungsreden lese und die wohlwollende Zustimmung in der Presse der verschiedenen Länder, muss ich jener Parlamentarier-Zusammenkünfte gedenken, die wir zur Festigung eines vernünftigen Friedenszustandes vor dem Krieg veranstalteten, und die von deutscher Seite nur zum geringsten Teil mitgemacht, von der deutschen Presse nur mit Zweifel, sehr oft mit Hohn und kalter Ablehnung begrüsst wurden.

Wäre es nicht gescheiter gewesen, wenn die Herren Bassermann, Stresemann, Erzberger und viele andere ihre Verbrüderungsreden in Paris und London gehalten hätten, statt sie in Konstantinopel und Sofia zu halten. Wäre es nicht vernünftiger gewesen, wenn damals in Bern und in Basel bei den franco - deutschen Parlamentarier - Konferenzen mehr deutsche Abgeordnete erschienen wären und das Gros der deutschen Presse nur einen Teil jener Sympathie für das Kulturvolk des Westens bereit gehabt hätte, die es heute für Türken und Bulgaren verschwendet? Europa sähe heute anders aus, und das deutsche Volk wäre glücklicher geworden. Liebknecht zu 2 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt! Dabei ist er noch milde behandelt worden, denn es wurden ihm die politischen Ehrenrechte belassen. Ins Zuchthaus also mit den Gegnern des Kriegs? — Ich erinnere mich einer Zeitungsmeldung, die 1911 durch die deutsche Presse ihre Runde machte. Sie lautete:

«Nach der ,Mil. polit. Korr.’ wird, wie bereits kurz mitgeteilt, von amtlicher Stelle erwogen, durch Änderung der Gesetze die Propaganda des Friedens zu beschränken. Die Erwägungen, die sonst bei unseren Regierungsstellen ausserordentlich lange dauern, sollen in diesem Fall schon so weit gediehen sein, dass dem Reichstag bald dahingehende Entwürfe vorgelegt würden. Die genannte scharf macherische Korrespondenz hofft natürlich zuversichtlich, dass die geplanten neuen Bestimmungen ,hohe Freiheitsstrafen’ für die dem Militarismus unbequeme Friedensagitation vorsehen. Während eines Kriegs soll es jedoch keineswegs bei dieser Strafe sein Bewenden haben, sondern dann soll noch dem Vorschlag der Korrespondenz mit Verführern und Verführten der allerkürzeste Prozess gemacht, d.h. sie sollen auf Kommando des militärischen Befehlshabers standrechtlich erschossen werden». Wenn man bedenkt, dass diejenigen, die im Frieden solche Gesetze machen wollten und an solche Bekämpfungsarten der Friedensidee dachten, heute am Ruder sind, muss man über die Milde des Urteils gegen Liebknecht wahrlich erstaunt sein.

Noch ist es nicht rechtskräftig. Es fehlt das Urteil der höheren Instanz, und dann das der Geschichte.