Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 21. September.

Es war heute vor zehn Jahren. Der XIV. Weltfriedenskongress fand in Luzern statt. An dem freien Nachmittag des dritten Kongresstages luden die englischen Teilnehmer die deutschen zu einem zwanglosen Tee. Nachher begab man sich in einen andern Saal des Hotels, wo Reden gehalten wurden. Felix Moscheles (London) übernahm den Vorsitz. Verschiedene englische und deutsche Teilnehmer ergriffen das Wort. Man war sich einig, dass der Hetzpresse beider Länder, die das Misstrauen errege und wach halte, das Handwerk gelegt werden müsse. Alle Redner betonten, dass für die herrschende Feindseligkeit zwischen beiden Nationen kein vernünftiger Grund vorhanden sei, sie forderten alle die Notwendigkeit besserer Beziehungen und eine weitgehende Aufklärung über die gefährlichen Umtriebe gewisser Kreise. Es wurde beschlossen, einen gemeinsamen Aufruf an die Öffentlichkeit in beiden Ländern zu erlassen und zu diesem Zweck ein Komitee einzusetzen, das ständig in Fühlung bleiben und mit den verschiedensten Mitteln versuchen solle, die deutsch-englischen Beziehungen zu verbessern.

Diese Komiteegründung auf dem Friedenskongress heute vor zehn Jahren bildete den Ausgangspunkt der grossen anglo-deutschen Verständigungsbewegung, die zu den zahlreichen Austauschbesuchen, zu der Gründung grosser anglo-deutscher Organisationen und schliesslich zu jener Besserung der Beziehungen zwischen den beiden Völkern geführt hat, die die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung bereits als überwunden ansehen liess.

Der Aufruf erschien am andern Morgen. Er verdient es, hier festgehalten zu werden in dieser Zeit, wo seit über einem Jahr der Krieg zwischen beiden Völkern wütet, und diese sich gegenseitig die Blüte ihrer Jugend hinraffen. Er hat folgenden Wortlaut:

«Aufruf an beide Völker.

Erfüllt von dem Bewusstsein, dass die Gefahr eines feindlichen Zusammenstosses der beiden Nationen droht, drängt es uns, der festen Überzeugung Ausdruck zu geben, dass kein vernünftiger Grund, sei er ökonomischer oder politischer Natur, für die unfreundlichen Gefühle vorliegt, die leider zwischen ihnen zur Zeit bestehen.

Hinter dem scheinbaren Gegensatz wirtschaftlicher Interessen, den der Wettbewerb auf dem Gebiete des Handels und der Industrie vortäuscht, verbirgt sich in Wirklichkeit ein solidarisches Interesse beider Völker, von denen jedes dem andern die Güter liefert, die es am besten hervorzubringen vermag.

Ebensowenig stehen die politischen Interessen der zwei Staaten einander entgegen, soweit sie in den Grenzen des wahren Allgemeinwohls bleiben. Daher können alle Verständigen, ohne Schaden für das eigene Land, ihre Bemühungen auf das richten, was beiden Völkern nützt. Die stete Verstärkung der Rüstungen auf beiden Seiten ist die Folge blosser Missverständnisse und bewusster Irreführung aus selbstsüchtigen Motiven. Das eine wie das andere Volk leidet gleichermassen unter den daraus entspringenden Lasten, jedes hat das gleiche Interesse daran, diesem unsinnigen Wettkampf ein Ende zu machen, und beide vereint haben die Macht dazu.

Jene Missverständnisse gehen durchaus auf Leute zurück, die in ihrem eigenen Lande weder Ansehen noch Bedeutung besitzen, ein Umstand, den man im andern Lande nicht kennt, oder den man übersieht. Nur so ist es möglich, dass durch ihr Wirken kleine Verstimmungen zu feindseligen Gefühlen anwachsen, ja dass man sogar die Möglichkeit eines Krieges ernsthaft erwägen konnte. Und es gibt keine Sicherheit dagegen, dass sich nicht Gleiches wiederholt, und dass aus Meinungsverschiedenheiten, die bei gutem Willen leicht zu schlichten wären, ernste Konflikte entspringen.

Wir protestieren mit Nachdruck gegen den blossen Gedanken eines feindlichen Zusammenstosses, der Wahnsinn und Verbrechen zugleich wäre. Wir kennen keinen einzigen Grund zu einem solchen Streit zwischen den beiden Völkern. Wir finden vielmehr in ihrer Geschichte, in ihren gemeinsamen Anschauungen und Empfindungen, in ihrer langdauernden Freundschaft, in dem, was sie in Kunst und Wissenschaft gegenseitig einander verdanken, die stärksten Gründe für einen noch engeren freundschaftlichen Zusammenschluss. Wir glauben ferner, weit entfernt, in dem englisch-französischen Übereinkommen einen Grund zur Trennung zwischen unseren beiden Ländern zu sehen, dass dieses Übereinkommen im Gegenteil für alle drei Völker die Möglichkeit schafft, in gegenseitiger Freundschaft ihren gemeinsamen Interessen und dem Frieden der Welt zu dienen.

Darum fordern wir unsere Mitbürger auf, mit uns in Wort und Tat dafür zu wirken, dass ein besseres gegenseitiges Verständnis und damit das Gefühl aufrichtiger Freundschaft beider Länder erwachse und immer mehr erstarke. Wir bitten jeden, der in diesem Sinne tätig sein will, dazu mit einem der Unterzeichneten in Verbindung zu treten». —

Wahrhaftig diese Männer — Deutsche wie Engländer — die diesen Aufruf zur gegebenen Zeit erlassen, und die Hunderttausende in beiden Ländern, die ihm zugestimmt haben, können wie Kaiser Wilhelm sagen: Wir haben diesen Krieg nicht gewollt. — Und sie können sich auch sagen, mit etwas mehr Verständnis und Entgegenkommen seitens der Regierungen wäre es ihnen gelungen, ihn zu vereiteln.

Viele werden erst jetzt begreifen, welche ernste und grosse Aufgabe damals in Luzern unternommen wurde, und wie gut es gewesen wäre, sie mit Nachdruck zu unterstützen. Nicht an uns lag es, dass der 4. August 1914 kommen konnte. Es lag an den Gleichgiltigen, an den Skeptikern und nicht zuletzt an den Dummen, die den Hetzern ins Garn liefen.

Die Katastrophe konnte dennoch nicht vermieden werden. Aber nach dem Kriege soll mit vermehrter Kraft und unter dem besseren Verständnis der hart geprüften Zeitgenossen das Werk von neuem begonnen werden. Die Hetzer und Hasser sollen nicht mehr des Triumphes teilhaftig werden, über die Vernunft zu siegen.