Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

21. Mai (Lugano) 1915.

Der «grosse Tag» Italiens ist vorübergegangen. Das Parlament hat dem Ministerium Salandra mit 704 gegen 74 Stimmen Vollmacht für den Kriegsfall erteilt. Damit hat sich das italienische Parlament für den Krieg entschieden. Ob es den wahren Willen des Volks zum Ausdruck bringt, ist fraglich. Immerhin haben sich inmitten der allgemeinen Raserei 74 Männer gefunden, die aufrecht blieben. Sie sind die wahren Vertreter der Menschheit. Es ist wohl auch das einzige Parlament des kriegführenden Europas, in dem sich eine Opposition fand. Das zeugt eigentlich nur von schlechter Regie. Denn bei solchen Situationen kann man sagen: Regie ist alles. —

Es ist noch immer nicht Krieg! Und wie man an den Tod eines Menschen nicht glauben soll, solange das Herz sich noch regt (oder nicht glauben will), soll man an den Krieg nicht glauben, so lange er noch nicht Tatsache ist.

Als Flüchtling aus Italien erschien gestern plötzlich Dr. X. hier. Erfreut über die Möglichkeit einer Aussprache. Interessante Mitteilungen über die Erscheinungsgeschichte und den bisherigen Erfolg seines Buches. Y. Z., der jetzt in Zürich lebt, schrieb mir gerade vorgestern über dieses Buch, auf das er in Berlin von «beachtenswerter Seite» aufmerksam gemacht wurde. Er fragt nach dem Verfasser und sondiert, ob ich es bin. Auf meine Antwort heute interessanten, warmfühlenden Brief von ihm erhalten. Darin, dass er kürzlich bei Bülow war, dem er sagte: «Es genügt nicht, dass ein Staatsmann heute modern ist. Er muss Futurist sein. Die Friedens- und Verständigungsformel liegt — bezw. lag — auf ganz andren Breitegraden als wo man sie bisher zu suchen weder Mut noch Einsicht hatte». Wie wahr! Diese Einsicht muss sich durchbrechen, und unsre Stunde kommt damit!