Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. Juni.

Die französische Kammer nahm nach dreitägiger Geheimsitzung, in der die Kriegslage namentlich im Hinblick auf die zerrütteten Zustände in Russland erörtert wurde, mit 453 gegen 55 Stimmen eine Tagesordnung an, in der der Wille nach einem französischen Frieden ohne Annexionen, der indessen die Befreiung Frankreichs sichert, in dem Sinn, wie es vor 1870 bestand, zum Ausdruck kam. Damit ist die Wiedererlangung Elsass-Lothringens als französisches Kriegsziel offiziell zugegeben worden.

Darüber darf man sich nun in keinem Fall wundern. Elsass-Lothringen ist im letzten Grund die Ursache dieses Kriegs. Der Kampf um die beiden Provinzen hat die europäische Politik des vergangenen halben Jahrhunderts bestimmt, jene Politik, als deren wesenstreue Fortsetzung dieser Krieg gelten muss. Dass die elsass-lothringische Frage, über die sich die Mehrheit der Deutschen vogel-straußartig glaubte hinwegsetzen zu können, indem sie behaupteten, sie sei durch den Frankfurter Vertrag erledigt worden, nach diesem Krieg eine Erledigung finden müsse, ist nur zu klar. Andernfalls sind die furchtbaren Opfer umsonst gefallen, dauert der Zwist weiter, der die Anarchie in Europa erhält. Wie diese Erledigung sich gestalten soll, bleibe dahingestellt. Die glatteste Lösung wäre natürlich die Abtretung der Provinzen an Frankreich. Die ist aber auch die schwierigste und kostspieligste Form der Erledigung, denn sie setzt die Niederlage der Zentralmächte voraus. Heute, nach drei Jahren des blutigsten Kriegs, der die Erschöpfung bei allen Kampfteilnehmern der ersten Stunde gezeitigt hat, von einer solchen völligen Niederlage zu sprechen, bedingt den Entschluss, den Krieg noch zwei, wenn es sein muss, noch drei Jahre fortzuführen. Das wäre wahrhaftig ein kostbarer Preis

252

für diese beiden Provinzen, die heute bereits den Deutschen und Franzosen um ein Vielfaches mehr Opfer gekostet haben, als sie Einwohner zählen.

Vom Standpunkt der klaren Vernunft, des kühl rechnenden Verstands lohnt natürlich die Erwerbung oder Erhaltung der beiden Provinzen einen solchen Preis nicht. Aber bei dem Besitz handelt es sich für beide Teile schon lange nicht um den realen Wert des Objekts, sonst hätte man schon längst auf die Opfer verzichten müssen, die bereits vor dem Krieg durch das Wettrüsten von beiden Seiten, und ungewollt auch von ganz Europa, gebracht wurden. Es handelt sich eben um einen ideellen  Wert, um eine durch Gegenwert gar nicht auszugleichende Forderung. Deshalb läuft die Menschheit Gefahr, an diesem Konflikt, der keinen Wertmesser kennt, zu verbluten. Der Kampf um die paar Quadratkilometer hat heute die schreckliche Bedeutung angenommen, dass der Besitz der beiden Provinzen am Ende des Kriegs das Kriterium des Sieges bilden wird. Wer nach diesem Ringen die Provinzen nicht besitzt, wird als der Unterlegene gelten, selbst wenn, wie anzunehmen, auch der sogenannte Sieger nur ein armer Besiegter sein wird.

Hätten wir nicht durch ein dreijähriges Ringen um Schützengräben und Steinhaufen den Anspruch verwirkt, als vernünftige Wesen zu gelten, deren Handlungen durch Urteilsschlüsse bestimmt werden, so würden wir den Ausweg aus diesem unheilvollen Dilemma in einem Kompromiss suchen, der keinem der Streitteile den Besitz überweist oder keinem den unbeschränkten Besitz des Ganzen. Das würde eine Erledigung sein, die keinem das Recht gäbe, sich als Sieger aufzuspielen, jedem aber die Möglichkeit nehmen würde, Opfer für ein Phantom zu bringen, die beiden Teilen das Stigma des Wahnsinns aufprägt. Eine solche Lösung würde Deutschland und Frankreich als Sieger erscheinen lassen,

233

als Sieger über sich selbst, zum eignen Wohl und zum Wohl der ganzen Menschheit. Die Möglichkeit für eine solche Lösung besteht für den Augenblick nicht. Soll man sie aber deswegen nicht fordern? Ist es in diesen Tagen, wo der Irrsinn herrscht, nicht eine Pflicht, die Forderung der Vernunft immer und immer wieder aufzustellen, in der Hoffnung, dass gerade durch diese Forderung eines Tags den Bewusstlosen das Bewusstsein wiederkommen könnte?

Vor dem Krieg stimmten vernünftige Franzosen mit uns überein, dass eine Erledigung der eisasslothringischen Frage durch Gewalt, die «Frage» nicht aus der Welt schaffen würde. Sie würde nur verschoben werden. Deutschland würde dann die Rolle des Vergeltungssuchers übernehmen. Diese Anschauung hat auch jetzt ihre Richtigkeit nicht verloren, sie verliert sie noch weniger dadurch, dass die Rückkehr der Provinzen von den Franzosen nicht als Annexion, sondern als Restitution ausgelegt wird. Das sind Haarspaltereien, die umso gefährlicher sind, als sie eigentlich den deutschen Annexionisten zur Deckung dienen, die ihre Begierde nach Quadratkilometern auch nur mit einer Vokabel umkleiden, die aus dem Wort «Annexion» das Wort «Schutzmassnahme» macht.

Wenn man in Frankreich dahin gelangen würde, auf die Lösung der Frage durch Angliederung zu verzichten, dann würde man aber auch in Deutschland sich bereit finden müssen, den Weg eines Kompromisses zu gehen. Denn dieser allein wäre imstande, diesem Krieg ein Ende zu machen. Man wird dann keinen Anlass mehr haben, sich weiter falschen Hoffnungen auf eine baldige Beendigung  dieses Ringens hinzugeben. Der Beschluss der französischen Kammer vom 5. Juni ist ein ernstes Zeichen dafür, dass die Hoffnung auf einen baldigen Friedensschluss deutscherseits irrig war. Darf man glauben, dass Frankreich diese Forderung mit

254 solcher Mehrheit aufgestellt hätte, wenn England sich in absehbarer Zeit schon so auf die Knie gezwungen betrachten würde, wie die Anhänger des unbeschränkten Unterseebootkriegs es sich und dem deutschen Volk glaubten, in Aussicht steilen zu können? Nein, dieser Beschluss der französischen Kammer ist ein unwiderlegliches Anzeichen dafür,  dass man sich drüben nicht am Ende der Kräfte fühlt, und dass der leidenden Menschheit zumindest noch ein vierter Kriegswinter bescheiden ist. Was das heisst, braucht man niemand klar zu machen, aber daran darf erinnert werden, dass durch eine solche Verlängerung des Kriegs in das vierte Jahr hinein, die im Hinblick auf die erhofften raschen Erfolge des Unterseebootskriegs als quantité négligeable angesehene Streitkraft der Vereinigten Staaten, ja, der gesamten pan-amerikanischen Union, eine unheimliche Realität annimmt.

Der Krieg ist im letzten Grund durch Eisass-Lothringen entstanden. Der Krieg wird heute in der Hauptsache nur mehr um Elsass-Lothringen geführt. Die Gewalt kann dieses Kriegsobjekt niemals aus der Welt schaffen, ausser um den Preis der völligen Vernichtung der europäischen Welt. Es muss der Ausweg durch ein Kompromiss gefunden werden, der, je früher er geschlossen wird, umso mehr Menschenleben und Kulturwerten Rettung verheißt.