Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Locarno, 16. April.

In welchem Zeitalter leben wir! Die Geschichte mit dem Kaiserbrief und die Art wie Graf Czernin sie zu entkräften sucht, ist wohl eines der traurigsten, eines der haarsträubendsten diplomatischen Ereignisse dieser Kriegsära. Das Wort «wer jetzt nicht lügt, ist ein Schuft», scheint wirklich das Motto unserer Diplomatie zu sein.

Noch am 11. April lies Graf Czernin durch das Wiener Korrespondenzbureau amtlich erklären, «dass die Angaben Clémenceaus über die brieflichen Äußerungen Kaiser Karls von Anfang bis Ende erlogen seien». Aber nach der daraufhin erfolgten Veröffentlichung des Wortlautes jenes Briefes durch die französische Regierung musste Graf Czernin das Vorhandensein dieses Briefes vom 13. April zugeben und sich darauf beschränken, Teile desselben als «verfälscht» zu bezeichnen. Die Stelle über Elsaß-Lothringen hätte danach gerade das Gegenteil gesagt, als in der französischen Veröffentlichung enthalten ist. Der am 11. April noch «von Anfang bis Ende erlogene» Brief soll folgende Stelle enthalten «Ich hätte meinen ganzenpersönlichen Einfluß zugunsten der französischen Rückforderungsansprüche bezüglich Elsaß-Lothringens eingesetzt, wenn diese Ansprüche gerecht wären. Sie sind es jedoch nicht.»

Die geistige Minderwertigkeit dieser Diplomatie wird am besten gekennzeichnet durch das geringe Maß von Urteilskraft, das sie anderen zutraut. Es ist beleidigend, welche Einschätzung solch ein Diplomat den Völkern zumutet. Die Nebelatmosphäre des Kriegs, die jeden feindlichen Staatsangehörigen als einen Lumpen und Verbrecher erscheinen lässt, erleichtert ihnen das Jonglieren mit der Vernunft. In diesem Nebel glauben viele alles, was zur eigenen Reinwaschung und zur Besudlung der Gegner gesagt wird, zumal wenn eine offiziös einexerzierte Presse «die Mauer» macht. In den Dementierfabriken der Zentralmächte sitzen wahrlich keine Genies. Wie soll man glauben, dass Kaiser Karl in einem

Brief, dessen Friedensabsicht ja zugegeben und in der offiziösen Wiener Presse sogar in den Vordergrund gestellt wird, einen Punkt hervorheben und so ablehnend unterstreichen wird, dass angenommen werden muss, er müsse den Zweck des Versuchs von vornherein vereiteln. Gerade so wie Kaiser Karl in jenem Schreiben kein Wort über den Ausgleich mit Italien verlor, weil in dieser Hinsicht im März 1917 Schwierigkeiten bestanden, über die besser nicht geredet werden durfte, wenn man zu Unterhandlungen über den Frieden gelangen wollte, ebenso hätte er kein Wort über Elsaß-Lothringen verloren, wenn er die französischen Rückforderungsansprüche darauf als ungerecht angesehen hätte.

Ist es möglich, dass Graf Czernin, der dieses Kunststück zuwege gebracht hat, die Monarchie so zu schädigen, ihr Ansehen im Ausland so zu untergraben, die Friedensmöglichkeiten zu sabotieren, noch länger im Amt bleibt?