Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

14. März (Zürich).

Die erste Nummer der «Blätter für zwischenstaatliche Organisation» ist heute hier erschienen. Sie enthält nur solche Beiträge, die die Zensur in Berlin zur Veröffentlichung in der «Friedens-Warte» für nicht geeignet erachtete. Später wird diese Nummer ein prachtvolles Dokument für die Art der Handhabung dieser Zensur bilden. Es ist nichts darin enthalten, was jetzt nicht ohne jede Schädigung gesagt werden kann und nicht auch täglich in Deutschland gesagt wird. Man wird nicht begreifen können, warum diese Artikel in das neutrale Ausland flüchten mussten. Hoffentlich stösst die Verbreitung der Nummer in Deutschland und Österreich-Ungarn nicht auf Widerstand. Dann müsste ihr Leserkreis auf das neutrale Ausland beschränkt bleiben.

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Ich habe mir eine Nummer des «Supplément illustre» des Pariser «Le Petit Journal» gekauft. Koloriertes ganzseitiges Titelbild: Kampf verzweifelter Berliner Frauen mit Schutzleuten um die Brotausgabe. Schwarzes ganzseitiges Bild auf der Rückseite: Bestialisch aussehende deutsche Soldaten brennen mit glühenden Zangen den sich schreiend windenden russischen Gefangenen ein «Merkzeichen» auf die Schulter ein. Darunter die Inschrift: «Wie sie die Gefangenen behandeln». Im Text auf der Innenseite heisst es «Glaubwürdige (!) Zeugen erzählen, dass die Deutschen die kriegsgefangenen Russen mit glühendem Eisen markieren, wie die Züchter dies bei ihren Rindern zu tun pflegen. Die Stampiglien, deren sie sich dabei bedienen, tragen in Relief die Inschrift: «Kriegsgefangen 1914!» Es wird auf das Fleisch der Unglücklichen eingebrannt und soll dazu dienen, die Fluchtversuche zu erschweren (!)» —

Ein solches Blatt mit seinem schreienden bunten Titelblatt kostet 5 Centimes. Es soll in über einer Million Abzüge verbreitet sein, so dass das darin enthaltene Gift in die Seelen von vielen Millionen Betrachter der Bilder eingeflösst wird. Bei der künftig zu unternehmenden Aktion gegen die schädlichen Einflüsse der Presse wird ein ganz besondres Augenmerk auf diese — leider in allen Ländern stark verbreitete — illustrierte Sensations-Presse zu richten sein, die vermöge ihrer Bildersprache noch tiefer auf die Masse einwirkt als jene Presse, deren Inhalt erst gelesen werden muss. Man kämpft gegen Cholera, Krebs und Typhus, jetzt während des Kriegs mit unerhörtem Aufwand gegen die Läuseplage, und der Kampf gegen diese Seuche soll unterlassen werden? — Die Verbrecher, die sich die Verbreitung dieser Ansteckungsstoffe zur Aufgabe stellen, verstecken sich hinter den sogenannten demokratischen Grundsätzen, die geachtet werden müssen. Wenn es keine andre Möglichkeit gäbe, dieser Verbrecher Herr zu werden, als dadurch, dass man erst die Pressfreiheit zertrümmern müsse, so wird der Freund des Fortschritts und der Freiheit lieber auf diese demokratische Errungenschaft verzichten müssen, als dass er jenem Unheil freien Lauf lässt. Die Pressfreiheit wird wohl — und gerade im Interesse der Freiheit — einigen Einschränkungen unterworfen werden müssen, denn jede bis ins Extrem sich erstreckende Freiheit verkehrt die Wohltat, die sie bereiten soll, in das Umgekehrte. Wie man nicht ungehindert Gift verkaufen darf, trotz der Gewerbefreiheit, so wird man auch im Rahmen der Pressfreiheit die Verbreitung von Gift hindern müssen. Es kann ja als erwiesen gelten, dass die uneingeschränkte Gewährung des demokratischen Postulats der freien Presse nur deshalb aufrecht erhalten wird, weil sie der Reaktion Macht gibt. Dessen müssen die Fortschrittsfreunde sich klar werden. Weniger wäre auch hier mehr. — Um solches Unheil abzuwenden, wie die illustrierte Sensationspresse aller Länder es hervor bringt, wird es aber gar nicht notwendig sein, Einschränkungen der Pressfreiheit vorzunehmen, die der Freiheit im allgemeinen gefährlich werden können. Im Hinblick auf die besondere Wirkung dieser Art Presse, die das Volk nicht durch das Wort, sondern durch die unmittelbare Einwirkung auf die Sinne beeinflusst, könnten besondere Vorsichtsmassnahmen getroffen werden, die es verhindern, dass gewiegte Verbrecher, gemeine Spekulanten auf die Roheit, sich der demokratischen Garantien — im letzten Ende zum Nachteile der Demokratie — als Deckung bemächtigen. Ein Laiengericht, das als Zensurbehörde zu fungieren hätte, könnte die Vorbeugung schaffen, die jenes verbrecherische Handwerk rasch beseitigen würde.

Das wäre die notwendigste Massnahme zur Bekämpfung der «gelben Pest», dass dem Bilderschwindel das Handwerk gelegt werde. Gegen die geschriebene Gifteinflössung könnten andre Massnahmen getroffen werden.