Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 18. Dezember.

Deutscher Sieg in Polen. Gestern abend wurde es bekannt, dass die russische Offensive in Polen niedergebrochen, der Feind in vollem Rückzuge begriffen sei. Die offizielle Depesche spricht von einem «entscheidenden» Sieg. Gibt es noch solche? Wo liegt die Entscheidung? Wird dadurch der Friede hergestellt? Nur ein solcher Sieg kann als entscheidender bezeichnet werden. Ich fürchte, dieser Art wird der Ausgang der Polenschlacht nicht sein. Er bedeutet sicherlich einen grossen deutschen Erfolg, eine Zurückweisung der Russen von den deutschen Grenzen. Die Leute in Breslau und Posen werden ruhig Weihnachten feiern können. Aber der Friede wird durch diese Schlacht noch nicht kommen. Immerhin, die Lage Deutschlands ist dadurch bedeutend besser geworden.

Deutschland beweist, dass es schlagfertig war.

Die gestern gemeldete Beschiessung der englischen Ostküste bei Scarborough durch ein deutsches Geschwader hat Sensation erregt.

Beide Ereignisse haben, nach Blättermeldungen, in ganz Deutschland ungeheuren Jubel ausgelöst. Begreiflich. Die Angst über den Ausgang der Polenschlacht war gross. Jetzt kann man aufatmen. Und schon lange war kein Sieg zu feiern.

Trotz allen offiziellen Ableugnungen und dem entrüsteten Gebaren der offiziösen Presse über das Friedensgerede scheint der Gedanke an den Friedensschluss die Gemüter im umfangreichen Masse zu beschäftigen. Und zwar überall. Ich glaube, in jedem Lande hat man sich den Verlauf des Kriegs anders vorgestellt, als er wirklich gekommen ist. Deutschland meinte, in raschem Anlauf siegen und seine Friedensbedingungen diktieren zu können. Es rechnete nicht mit den Langwierigkeiten des Positionskrieges und noch weniger mit der Teilnahme Englands, dessen Stärke in der Zeitausdehnung liegt. In Österreich rechnete man mit den raschen Erfolgen Deutschlands und einer schnellen Niederwerfung Russlands, wobei dessen langsame Mobilisierungsfähigkeit einen grossen Faktor bildete. In Frankreich rechnete man damit, dass Russland und England den Krieg rasch auf deutsches Gebiet übertragen und das Land von der Invasion frei halten werden. Am wenigsten enttäuscht ist England. Darin liegt die Schwierigkeit, zu einem Friedensschluss zu gelangen, der für jedes Land eine Entschädigung der ungeheuren bereits gebrachten Opfer darstellen soll und dennoch keinerlei Entscheidung als Unterlage bietet. Kein Land ist besiegt, und jedes hat ungeheuer gelitten. Wahrscheinlich wird dieses Verhältnis nach einem Jahr nur in der Art verändert sein, dass die Entscheidungslosigkeit bleiben wird, die Opfer aber noch grösser geworden sein werden. Wir werden die Geschichte mit den sibyllischen Büchern erleben. Kluge Vorsicht könnte den Frieden schon jetzt erreichbar machen. Aber die getäuschten Hoffnungen werden diese Vorsicht kaum aufkommen lassen. Für den Pazifismus wäre dieser vorzeitige Friede doch nicht schlecht. Er würde nicht das neue Europa gestalten; aber er würde die Einsicht stärken, dass Kriege keine Entscheidungen bringen. Allerdings würde in Deutschland die Lage der Rüstungsfanatiker infolge der deutschen Waffenerfolge auch gebessert erscheinen. Aber für die Dauer müsste die Politik des Wettrüstens an dem gesunden Sinn des deutschen Volkes scheitern und einer bessern Erkenntnis Platz machen.

Eigentümlich berührt mich die für morgen angekündigte Konferenz der drei skandinavischen Könige in Malmö. Die Könige werden von ihren Ministern des Äussern begleitet sein. Das Zusammentreffen soll nach den offiziellen Mitteilungen den Königen der drei Staaten Gelegenheit geben, «über die Mittel zu beraten, die in Frage kommen könnten, um die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der Kriegszustand für die drei Länder mit sich bringt, zu begrenzen und zu hemmen.» Das ist offenbar nicht der Grund. Dazu bedarf es keiner Königskonferenz. Das kann man im Zeitalter der Telegraphie auch von Amt zu Amt beraten. Es hat den Anschein, als ob hier eine Vermittlung beabsichtigt ist. Berufen wären die drei Staatsoberhäupter der am wenigsten an dem Kriege interessierten neutralen Monarchien wohl am meisten dazu. Wer weiss, was daraus noch wird.

Der für Deutschland günstige Ausgang der Schlacht in Polen kann von Einfluss für das Gelingen einer Vermittlung sein. Wäre es umgekehrt der Fall, dann wären gar keine Aussichten vorhanden, weil Deutschland in einer ungünstigen Situation nur dann vom Frieden hören wollte, wenn es am Ende aller Kräfte wäre. Also, wir werden sehen.

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Merkwürdige Mitteilung von W. in seinem Schreiben vom 12. d. Mts. Er schreibt mir:

«Ihren sehr interessanten Brief vom 5. d. Mts. erhielt ich erst heute von der Landwehrinspektion ausgehändigt mit dem Bemerken, dass künftighin Ihre an mich gerichteten Briefe nicht an mich geliefert würden, wenn Sie nochmals Verfügungen des Oberkommandos in solcher Weise brieflich kritisieren.»

Ich entsinne mich nicht, etwas anderes gesagt zu haben, als die der «Friedens-Warte» in Berlin widerfahrenen Tatsachen. Dass aber eine derartige Einschränkung der Freiheit möglich ist, gibt zu denken.

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In der «Kölnischen Zeitung», in der mir am 17. November Herr Privatdozent Schönborn in Heidelberg «eine dreiste Beleidigung der deutschen Regierung» zum Vorwurf machen konnte, weil ich in meinem Kriegstagebuch der Vermutung Ausdruck verliehen habe, dass es sich vielleicht um einen Präventivkrieg handle, um einen Krieg also, den jene am lautesten gefordert haben, die sich am meisten mit ihrem Patriotismus brüsteten, steht in einem dem französischen Gelbbuch gewidmeten Artikel vom 4. Dezember folgender Satz:

«Es bleibt bestehen trotz aller Weiss- und Gelbbücher, mögen auch Orangebücher noch hinzukommen: man hat uns in den Krieg gehetzt, und wir sind nicht so dumm gewesen zu warten, bis alles auf der Gegenseite fertig war, bis alle die russischen, strategischen Bahnen nach unserer Grenze zu gebaut, bis alle englischen Munitionsniederlagen in Frankreich und Belgien gefüllt waren, bis alles zum Beginn des Spieles bereit war, und nur noch eine diplomatische Jonglierung hätte gefunden zu werden brauchen!»

Das heisst den Krieg, den Deutschland führt, viel unumwundener als einen Präventivkrieg bezeichnen, als ich es getan habe.

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Bemerkenswerter Artikel in der «Gazette de Lausanne» von gestern, betitelt «L’Autriche-Hongrie et la Paix». Angeblich von einem ehemaligen österreichischen Diplomaten. Wahrscheinlich jedoch der Versuch der Triple-Entente, Österreich für einen Separatfrieden zu gewinnen. Der Artikel stellt es so dar, als ob Österreich-Ungarn in den Krieg nur von Deutschland hineingehetzt worden wäre, um sich seiner Bundesgenossenschaft versichert zu halten. Er führt aus, dass Österreich-Ungarn im Falle eines deutschen Sieges nichts zu erhoffen, bei einer Niederlage erst recht alles zu verlieren hätte. Ein Separatfriede würde der Doppelmonarchie den status quo sichern und auch die historisch berechtigte Führung im Deutschen Reich geben.

Der Artikel ist leider sehr wahr. Er wird aber nie sein Ziel erreichen; denn die österreichischen Staatsmänner werden nie zugeben wollen, dass sie eine Dummheit begangen haben, als sie den Krieg begannen. Lieber würden sie das Reich opfern, ehe sie das zugeben.

Eine andere bemerkenswerte Erscheinung ist der Abdruck eines Vortrages, den Carl Spitteler am 14. Dezember in der «Neuen Helvetischen Gesellschaft», Gruppe Zürich, über «Unser Schweizer Standpunkt» gehalten hat, in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 16. Dezember und 17. Dezember (No. 1670 und 1674).

Dieser Artikel gibt den Beweis, dass man trotz aller Sympathie für Deutschland auch in der deutschen Schweiz Deutschlands Vorgehen nicht billigt. Er ist ein prachtvolles Dokument. Ich möchte ihn im vollen Umfang hier festhalten. Aber das würde mir zu viel Arbeit machen. Ich hebe ihn mir auf, als ein Zeichen, dass trotz aller Vernunftlosigkeit die Vernunft doch nicht ganz untergegangen ist. Nur eine Stelle — die über Belgien — will ich abschreiben:

«Dass Belgien Unrecht widerfahren ist, hat der Täter ursprünglich persönlich zugestanden. Nachträglich, um weisser auszusehen, schwärzte Kain den Abel. Ich halte den Dokumentenfischzug in den Taschen der zuckenden Opfer für einen seelischen Stilfehler. Das Opfer erwürgen war reichlich genug. Es noch verlästern ist zu viel. Ein Schweizer aber, der die Verlästerung der unglücklichen Belgier mitmacht, würde neben einer Schamlosigkeit Gedankenlosigkeit begehen. Denn genau so werden auch gegen uns Schuldbeweise zum Vorschein kriechen, wenn man uns einmal ans Leben will. Zur Kriegsmunition zählt eben leider auch der Geifer».